Xeelee 2: Das Geflecht der Unendlichkeit
und wünschte, daß er nicht so verdammt müde wäre. »Schöne Ansprache«, meinte er.
Sie setzte sich aufrecht hin. »Und du hast Angst vor dir selber. Aus Angst vor deiner eigenen Entschlußlosigkeit erwägst du nicht einmal die Möglichkeit, Miriam, die Person, die dir am nächsten steht, zu konsultieren. Sie ist nicht einmal eine Lichtsekunde entfernt. Du würdest eher, wie du es ausgedrückt hast, ›Kleinholz‹ aus deiner Kommunikationseinrichtung machen als…«
»Das reicht«, blaffte Michael.
Sie zuckte etwas zurück vor der Schärfe seines Tons, behielt die Körperhaltung aber sonst bei; blasse Augen glitzerten in ihrem knochigen Gesicht.
»Zur Hölle mit dem ganzen Kram«, sagte Michael. »Das ist rein akademisch, Shira. Die Spielregeln haben sich geändert; hinsichtlich dessen, was von jetzt an mit diesem Schiff geschieht, könnte das Universum genausogut auch nicht existieren; wir haben das doch schon geklärt. Jetzt geht es nur noch um uns vier – dich, mich, Parz und Harry…«
»…und einige hundert Drohnen«, warf Harry unsicher ein, »die zu kontrollieren mir etliche Schwierigkeiten bereitet…«
Michael ignorierte ihn. »Nur wir vier, Shira, in dieser Blase aus Luft und Wärme. Und das Schiff könnte nur dann wieder auf Gegenkurs gehen, wenn ihr – du – mich und die anderen davon überzeugt, daß euer Projekt die unkalkulierbaren Risiken wert ist, die es enthält.« Er musterte sie und versuchte, ihre Reaktion abzuschätzen. »Alles klar? Du hast achtunddreißig Minuten.«
»Sechsunddreißig«, stellte Harry richtig.
Shira schloß die Augen und atmete tief und erschauernd ein. »Gut«, sagte sie. Mit steifen und wenig graziösen Schritten ging sie über das Deck zu ihrem Stuhl und setzte sich hin.
Michael, der sie beobachtete, spürte eine freudige Erwartung in sich aufkommen, und die Aussicht, schließlich doch noch eine Antwort auf seine Fragen zu erhalten, wirkte wie ein Jungbrunnen auf ihn.
Shira berichtete ihnen von Eugene Wigner und der von-Neumann-Katastrophe.
Wie die Tot-oder-lebendig-Bedingung von Schrödingers Katze, verharrten die Ereignisse in einem Zustand der Unwirklichkeit, bis sie von einem Beobachter bewußt wahrgenommen wurden. Durch jeden Beobachtungsvorgang lagerte sich jedoch eine weitere Schicht der Potentialität an das Kernereignis an, die ihrerseits bis zu einer Beobachtung irreal blieb.
Eine solche Verknüpfung von Quantenfunktionen erstreckte sich nach Wigners Ansicht in einer endlosen Kette, einer infiniten Regression in die Unendlichkeit.
»Daher das Paradoxon von Wigners Freund«, dozierte Shira.
Michael schüttelte ungeduldig den Kopf. »Aber das ist eine rein philosophische Diskussion«, erwiderte er. »Wigner vertrat selbst den Standpunkt, daß die Regression nicht infinit sei… daß die Verknüpfung der Wellenfunktionen abbricht, sobald ein denkendes Wesen eine Beobachtung vornimmt.«
»Das ist eine Betrachtungsweise«, konterte Shira ruhig. »Aber es gibt noch andere…«
Shira beschrieb die Theorie des ›partizipierenden Universums‹.
Leben – intelligentes Leben – war unter dieser Hypothese für die Existenz des Universums selbst erforderlich. »Stellt euch Myriarden Verknüpfungen von Quantenfunktionen nach dem Kisten-Katzen-Freunde-Schema vor, die sich in einer Endlosschleife durch die Zeit erstrecken. Ständig«, sagte Shira, »konstituiert das Leben – das Bewußtsein – die Existenz des Universums durch den bloßen Vorgang der Beobachtung.«
Das Bewußtsein war wie ein riesiges, selbstjustierendes Auge, eine vom Universum entwickelte rekursive Konstruktion, um sich selbst am Leben zu erhalten.
Und wenn das wahr wäre, sagte Shira, müßte es das Ziel des Bewußtseins, des Lebens sein, Daten zu gewinnen und auszuwerten – alle Daten und überall –, um alle Ereignisse zu beobachten und zu aktualisieren. Denn ohne ein solches Updating konnte es keine Realität geben.
Aus einer Grundgesamtheit von einer Million Ausgangsbedingungen, wie durch das ›Umrühren‹ der terranischen Urmeere, hatte sich das Leben ausgebreitet – breitete sich noch aus –, um unter Ausnutzung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen Beobachtungen anzustellen, Daten zu sammeln und zu speichern.
»Wir leben in einer Zeit, die den Beginn der Kontaktaufnahme zwischen den Spezies im interstellaren Maßstab markiert«, sagte Shira. »Es gibt Krieg, Tod, Zerstörung, Völkermord. Aber von einer höheren Warte kann man das alles als
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