Xeelee 3: Ring
»Nicht für diese Mission.«
»Moment mal«, warf Louise ein. »Etwas fehlt noch.« Sie ging ihre Worte noch mal in Gedanken durch: Im Kopf durchgeführte Relativitätsmathematik war heikel. Aber trotzdem… »Poole, ein Flug über tausend Jahre wird nicht ausreichen.« Sie blickte zu den erlöschenden Sternen hoch. »Ich bin wohl keine Kosmologin. Aber ich sehe dort oben keine Sterne der Hauptreihe. Ich vermute, daß wir einen Himmel betrachten, der weit in der Zukunft liegt – mindestens einige Dutzend Milliarden Jahre.«
Poole schüttelte den Kopf. Sein virtuelles Gesicht war im schwachen Licht der Sterne nur schwer zu erkennen. »Nein, Louise. Du irrst dich. Ein Flug von tausend Relativjahren ist völlig ausreichend.«
»Wie dieses?«
»Weil der Himmel, den du siehst, sich nicht Dutzende Milliarden Jahre in der Zukunft befindet. Er ist fünf Millionen Jahre entfernt. Das ist alles – fünf Megajahre, nichts im kosmologischen Maßstab…«
»Aber wie…«
»Es gehört mehr als nur Zeit dazu, die Sterne zu zerstören, Louise. Wenn diese Rekonstruktion halbwegs authentisch ist, dann steckt eine Entität dahinter – die auch jetzt am Werk sein muß – und die systematisch die Sterne vernichtet…
Und infolgedessen auch uns.«
Uvarov wandte das Gesicht ausdruckslos dem sich verdüsternden Himmel zu.
»Wir haben Grund zu der Annahme, daß selbst unsere eigene Sonne Opfer dieses mysteriösen Anschlages ist«, sagte Poole. Er ging zu Louise hinüber. »Siehst du, Louise, du weißt, daß ich das kosmische Ingenieurwesen nicht befürworte – ich war es, der sich den Freunden von Wigner entgegenstellte und der alles darangesetzt hat, meine eigene Brücke in die Zukunft zu sperren. Aber das hier ist etwas anderes. Selbst ich kann mich mit dem identifizieren, was Suprahet hier vorhat. Begreifst du jetzt , warum sie wollen, daß du der Crab folgst?«
Die Lichterfülle über der Kuppel verblaßte; offensichtlich war die Vorführung beendet.
Poole stand noch immer vor Louise, aber seine Gestalt verschwamm, die Konturen verloren sich in Wolken aus Bildpunkten. Sie streckte die Hand nach ihm aus, aber sein Gesicht hatte sich bereits geglättet und jeglichen Ausdruck verloren; sie erkannte, daß ihn das Bewußtsein schon lange verlassen hatte, bevor sich die letzten Bildpunkte seiner Darstellung verflüchtigten.
Lieserl raste durch ihre Konvektionshöhle und erweiterte oder reduzierte ihr Sensorium fast nach Belieben.
Sie dachte über die Sonne nach.
Trotz ihrer imposanten Größe war die Sonne, als Maschine betrachtet, simpel. Als sie hinabschaute und die Augen öffnete, konnte sie die Anwesenheit des Fusionskerns erkennen, ein Glühen von Neutrinolicht unter dem strahlenden Plasma-Ozean. Sollte dieser Kern jemals vernichtet werden, würde der von dort ausgehende Fluß energetischer Photonen in die Strahlungs- und Konvektionszone unterbrochen. Die Sonne befand sich in einem hydrostatischen Gleichgewicht – der Strahlungsdruck der Photonen neutralisierte die Tendenz der Sonne, unter dem Einfluß der Gravitation zu kollabieren. Und wenn der Strahlungsdruck nicht mehr bestand, würden die äußeren Schichten in wenigen Stunden haltlos implodieren.
Die Sonne war nicht immer so stabil gewesen wie heute… und sie würde es auch nicht immer bleiben.
Die Sonne war aus einer sich verdichtenden Gaswolke entstanden – einem Protostern. Anfangs wurde die konturlose, amorphe Masse nur durch die Umwandlung ihrer Gravitationsenergie zum Leuchten angeregt.
Als die Temperatur in ihrem Innern auf zehn Millionen Grad angestiegen war, hatte die Wasserstoffusion im Kern eingesetzt.
Der Schrumpfungsprozeß war zum Stillstand gekommen, und es stellte sich schnell ein Zustand der Stabilität ein.
Die Fusion lief nun in einem inneren Kern ab, der von dem Plasmameer und der Konvektions-›Atmosphäre‹ umgeben wurde. Die stabile und stetig brennende Sonne war zu einem Hauptreihen-Stern geworden; zu dem Zeitpunkt, als Lieserl in die Konvektionszone eingedrungen war, brannte die Sonne schon seit zehn Milliarden Jahren.
Aber die Sonne würde nicht für immer in der Hauptreihe verbleiben.
Die in Energie umgewandelte Masse belief sich auf Millionen Tonnen pro Sekunde. Die Gesamtmasse der Sonne war so immens, daß das praktisch nicht ins Gewicht fiel; in ihrer gesamten Geschichte hatte die Sonne nur fünf Prozent ihres Wasserstoffvorrats verbraucht…
Aber dennoch neigte sich der Brennstoff im Kern unweigerlich seinem Ende zu.
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