Xeelee 3: Ring
Photosphäre werfen. Sie wußte, daß der Wurmloch-Wärmetauscher noch immer aktiv war und daß die diversen Verbesserungen, welche die Ingenieure durchgeführt hatten, als sie in extremer Überschreitung ihrer Einsatzspezifikation auf ihrer Suche tiefer in die Sonne eindrang, nach wie vor wirksam waren. Irgendwie jedenfalls.
Sie wußte das alles, denn wenn die Verbindung nicht mehr bestand, würde sie sterben.
Es war sogar vorstellbar, daß noch Leute am anderen Ende des Wurmlochs stationiert waren und dort brauchbare Daten abnahmen. Tatsächlich hegte sie diesbezüglich noch vage Hoffnungen, obwohl sehr viel dagegensprach. Das war schließlich der eigentliche Zweck dieser Expedition gewesen. Nur weil sie nicht mehr mit ihr kommunizierten, mußte das noch lange nicht bedeuten, daß sie nicht mehr da waren.
Und überhaupt kam es darauf auch kaum an; sie hatte nämlich gar nicht die Absicht, aus dem tranigen Halbschlaf zu erwachen, in dem sie sich die ganzen Jahre befunden hatte – und Jahrhunderte, und Jahrtausende…
Aber da war wieder dieses Anzeichen von Bewegung. Etwas Flüchtiges, Instabiles.
Es war nicht mehr als ein Schatten, der an der Grenze ihres Sensoriums vorbeizog, selbst für ihre verstärkten Sinne kaum wahrnehmbar. Sie versuchte, sich umzudrehen und das flüchtige Gespenst zu verfolgen; aber sie war steif, plump, ihre ›Glieder‹ eingerostet in den Jahrhunderten der Bewegungslosigkeit.
Der huschende Schatten schob sich erneut durch ihr Gesichtsfeld, verfolgte rasend schnell einen geradlinigen Kurs und verschwand dann aus ihrer Sicht.
Sie initialisierte Selbstinstandsetzungs-Routinen in ihrem ganzen System und arbeitete dabei mit ungewohnter Hast. Sie analysierte, was sie gesehen hatte, und zerlegte die visuell präsentierten Verbunddarstellungen in ihre Basiskomponenten.
Sie spürte einen Anflug von Erregung. Sie wußte, daß, wenn sie noch ein Mensch gewesen wäre, das Herz jetzt schneller schlagen und ein Adrenalinstoß die Haut straffen, den Atem beschleunigen und die Sinne aufnahmefähiger werden lassen würde. Zum erstenmal nach historischen Zeitabschnitten spürte sie Ungeduld mit dem Kokon aus heruntergefahrenen virtuellen Sinnen, in den sie eingesponnen war; es war, als ob die Maschinerie es ihr unmöglich machen würde, zu fühlen…
Sie dachte über die Resultate ihrer Analyse nach. Das Bild existierte kaum; kein Wunder, daß es wie ein Gespenst auf sie gewirkt hatte. Es war nicht mehr als ein schwacher Schatten vor der Neutrinoflut aus dem solaren Kern, eine vage Kohärenz inmitten der oszillierenden Interaktion mit den langsamen Photonen des Plasmas…
Der von ihr wahrgenommene Schatten war eine Struktur aus Dunkelmaterie. Ein Ding aus Photinos, welches das Herz der Sonne umkreiste.
Sie war in Hochstimmung. Endlich – und genau in der Tiefe, ein Drittel des Sonnenradius vom Kern entfernt, in der sie und Kevan seine Existenz all die Jahre deduziert hatten, hatte sie gefunden, wonach sie gesucht hatte – der Preis, für den ihre Menschlichkeit wegkonstruiert worden war. Endlich war sie zum Rand des aus Dunkelmaterie bestehenden Schattenkerns der Sonne vorgedrungen, zu dem fast unsichtbaren Geschwür, das sein Fusionsfeuer erstickte.
Sie wartete darauf, daß das Photino-Objekt wieder auftauchte.
Pfeilmacher glitt dem Boden entgegen.
Er passierte eine weitere Laubschicht: Diese bildete das Untergeschoß des Waldes, das aus an die Dunkelheit adaptierten Palmen und ein paar Setzlingen bestand, jungen Bäumen, die aus von den Trägerbäumen verstreuten Samen entstanden waren. Das Licht auf dieser Ebene war – selbst jetzt, am Mittag – düster und vom Grün des Blätterdachs durchtränkt. Die Luft war heiß, unbewegt, feucht.
Pfeilmacher kam dicht an der Basis eines großen Baums auf dem Boden auf. Unter einer seiner nackten Sohlen krabbelte ein Käfer, der sich einen Weg durch vermodernde Blätter bahnte. Pfeilmacher griff geistesabwesend nach unten, hob den Käfer auf und steckte ihn sich in den Mund.
Er wickelte das Seil vom Baum ab und begab sich auf eine Wanderung über den Waldboden.
Unter der dünnen Erdschicht spürte er den dicken Wurzelteppich des Baums. Die Bäume wurden von riesigen Widerlagern gestützt: dreieckigen, an der Basis fünf Meter breiten Flossen, die aus den gedrängt stehenden Stämmen wuchsen. Eine dünne Linie aus Termiten – ein mehrere hundert Meter langes Band – zog sich über den Boden zu der Spalte in dem Baumstamm, in der sich ihr Bau
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