Xeelee 3: Ring
Kinder… Meine unsterblichen Kinder.
Hör mir zu.« Erneut rollte Uvarov zu Pfeilmacher hinüber. »Du mußt mir zuhören; es ist sehr wichtig. Du bist die Zukunft, Pfeilmacher… Du, arm und unwissend, wie du bist: Du und deine Leute, ihr seid die Zukunft der Spezies.«
Er rollte zur Kante des Bretterbodens und wandte Pfeilmacher den Kopf zu. Pfeilmacher sah Flecken geronnenen Blutes am Boden dieser leeren Augenhöhlen, und er zuckte vor dem intensiven, fauligen Gestank des verwesenden Körpers unter der Decke zurück. »Du wirst nicht von deinen verdammten AS-Nanobots verraten werden, so wie es mir passiert ist. Als die ’bots vor fünf Jahrhunderten meine Glieder absterben ließen und die Augen ausstießen, erkannte ich, daß ich die ganze Zeit über recht gehabt hatte…
Aber jetzt sind wir wieder zu Hause. Die Mission ist vorbei. Das ist es, was die Sterne dir sagen, wenn du nur die Augen hättest, es zu erkennen.
Ich möchte, daß du die Leute versammelst. Besorgt euch Waffen – Bogen, Blasrohre –, alles, was ihr finden könnt.«
»Warum?«
»Weil ihr zurück auf die Decks gehen werdet. Zum erstenmal nach Jahrhunderten. Ihr müßt zum Interface gelangen. Das Interface, Pfeilmacher.«
Die Decks…
Pfeilmacher versuchte sich vorzustellen, wie er durch die Schleusen im Waldboden ging und in die Dunkelheit der endlosen Ebenen unter seinen Füßen eindrang. Panik kam auf und schnürte ihm die Luft ab.
Pfeilmacher entfernte sich stolpernd von der kleinen Hütte und tauchte wieder in die bekannten Gerüche des Dschungels ein. Er wandte den Kopf dem über ihm hängenden Blätterdach und dem darüber glühenden Himmel zu.
War es möglich, daß Uvarov recht hatte? War die tausendjährige Reise schließlich abgeschlossen?
Mit einemmal kam Pfeilmacher die Welt winzig und zerbrechlich vor, ein Fragment, das ungeahnten Gefahren ausgesetzt war. Er spürte den Wunsch, in das Blätterdach zurückzukehren und sich in der schweren, feuchten Luft zu verlieren, im Duft wuchernde Pflanzen.
»Milpitas hat recht«, meinte Pragmatikerin. »Dein Problem ist, daß du zuviel denkst, Morrow.« Ihre voluminöse Stimme dröhnte und hallte von den unverkleideten Metallwänden von Deck Eins wider; Pragmatikerin schien die sie umgebende große Leere überhaupt nicht wahrzunehmen – die erbärmlichen Behausungen, die endlosen, schattigen Plätze dieses unbewohnten Ortes. Pragmatikerin öffnete eine Schleuse. Die Schleuse war ein simpler Zylinder, der sich aus dem Boden erhob und nahtlos mit der hundert Meter über ihnen hängenden Decke verschmolz. Pragmatikerin hatte ein Schleusenschott geöffnet, aber es gab auch (wie Morrow aufgefallen war) sechs Meter über ihnen eine Luke im Zylinder, welche die obere Sektion des Zylinders abschloß.
Die Schleusen glichen sich alle. Aber Morrow hatte noch nie gesehen, wie sich eine obere Luke öffnete, und er kannte auch niemanden, der schon einmal eine geöffnet hätte.
Diesmal enthielt diese Schleuse einen Stapel dicker und reifer Ananas sowie ein paar Flaschen mit Copaifera-Saft. Morrow hielt einen Sack auf, und Pragmatikerin schickte sich an, das Obst methodisch in den Sack zu füllen, wobei ihr mächtiger Bizeps arbeitete. »Du mußt die Dinge so akzeptieren, wie sie sind«, instruierte sie ihn. »Unsere Lebensart hat sich seit Jahrhunderten nicht geändert – das mußt du zugeben. Also müssen die Planer zumindest etwas richtig gemacht haben. Warum sich also im Zweifelsfall nicht auf ihre Seite stellen?«
Pragmatikerin war eine große, stämmige Frau, die immer ärmellose Kutten trug, welche die starken Muskeln ihrer Arme freiließen. Ihr Kopf war kahlgeschoren, und das Gesicht war ausgeprägt und breit und hatte einen geduldigen und gelassenen Ausdruck. Im Kontrast hierzu war die untere Hälfte ihres Körpers ausgezehrt und spindeldürr und verlieh ihr ein seltsam unproportioniertes Aussehen.
»Du redest immer mit mir, als ob ich noch ein Kind wäre«, beschwerte sich Morrow bei Pragmatikerin. Was er in ihren Augen vielleicht auch immer bleiben würde. Pragmatikerin war zwanzig Jahre älter als Morrow, und sie hatte immer die Rolle der älteren Mentorin innegehabt – auch jetzt noch, mit einem Lebensalter von fünf Jahrhunderten, wo ein paar Jahrzehnte im Grunde vernachlässigbar waren. Die Tatsache, daß sie früher einige Dekaden verheiratet gewesen waren, hatte sich auf ihre langfristige Beziehung nicht ausgewirkt. »Schau, Pragmatikerin, so vieles in unserer kleinen Welt
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