Xeelee 3: Ring
mit erhobenen Händen zurück. »Du bist verrückt. Vielleicht hätte ich dich doch aufhalten sollen.«
Pfeilmacher war mit Uvarov bereits unter der Plattform verschwunden, und Morrow setzte sich auf die Kante des Lochs. Er schaute hoch. »Wünsch mir Glück.«
Aber Pragmatikerin war bereits gegangen, hatte den Schacht verlassen und war wieder in die Stadt-Welt der Decks eingetaucht: Zurück in Morrows altes Leben.
Nicht lange, und Morrows Schultern und Beine versteiften sich wieder und begannen heftig zu schmerzen. Er mußte immer längere Pausen einlegen. Die Basis des Schachts – durch einen Kranz offener Schotts beleuchtet – war eine entfernte Insel aus Licht, die mit unendlicher, sadistischer Langsamkeit auf ihn zukletterte.
Inzwischen befanden sie sich weit unterhalb der tiefsten bewohnten Ebene. Er wußte, daß es hinter der kalten Wand des Schachts nur noch Dunkelheit gab, stickige Luft und verlassene Wohnbereiche. Die Kälte schien den Schacht zu durchdringen; er fühlte sich klein, zerbrechlich und isoliert.
Sie fanden Simse, auf denen sie Rast machen konnten – sich hinlegen und sogar ein wenig dösen. Pfeilmacher legte Uvarov flach auf die harten Metallflächen, und dann zeigte er Morrow, wie er seine Muskeln massieren mußte, um keinen Krampf zu bekommen. Seilspinnerin holte Nahrung – Trockenobst und Dörrfleisch – aus ihrer Hüfttasche; Morrow wollte etwas essen, aber sein Magen war wie zugeschnürt.
Er zählte die Decks beim Abstieg. Zehn… Elf… Zwölf… Die Decks über Vier – die ganze ihm bekannte Welt – waren eine weit über ihm liegende, in der Entfernung verschwindende Blase aus Licht und Wärme.
Und doch, wenn diese Reise schon für ihn fremdartig und beunruhigend war, um wieviel schwieriger mußte sie dann erst für die Waldmenschen sein? Wenigstens war Morrow an Metallwände gewöhnt. Seilspinnerin und ihr Vater waren mit Bäumen aufgewachsen – Vögeln und anderen Tieren – Lebewesen. Sie mußten sich wohl fragen, ob sie ihre Heimat jemals wiedersehen würden.
Schließlich war es soweit, daß er die letzten zwanzig Sprossen abzählen konnte; dann das letzte Dutzend; und dann…
Torkelnd entfernte er sich ein paar Schritte von der Leiter und legte sich breitbeinig auf einen Metallboden. Hier, an der Basis des Schachts, wurden die Wände von einer Reihe offener, beleuchteter Gänge durchbrochen. »Beim Teufel und seiner Hölle«, bemerkte er. »Was für ein Tag. Ich hätte nie gedacht, einmal so glücklich zu sein, nur weil ich mich nicht mehr davor fürchten muß, zu fallen.«
Pfeilmacher hob Uvarov von der Schulter und lehnte ihn vorsichtig wie eine zerbrechliche Puppe an die Wand des Liftschachts. Morrow sah, wie Uvarovs Hand ihr endloses, pendelförmiges Zittern fortsetzte, und sein Mund öffnete sich mit leisen, obszönen Lauten. »Sind wir da? Sind wir unten?«
Pfeilmacher krümmte die entlastete Schulter und ließ die Arme kreisen. »Ja«, bestätigte er. »Ja, wir sind da…« Er ging auf eine der Luken zu, verlangsamte aber nervös das Tempo, als er sich dem Lichtschein näherte.
Morrow stand auf. Er versuchte sich vorzustellen, wie fremdartig das alles auf diese Leute wirken mußte; vielleicht war es an der Zeit, daß er die Führung übernahm. Er wählte eine beliebige Schleuse aus und schritt zuversichtlich aus dem Schacht in das helle, indirekte Licht hinein.
Nach der Dunkelheit des Schachts war die Helligkeit grell und blendend. Einen Moment lang stand er da, am Schachteingang, und beschirmte mit den Händen die tränenden Augen.
Er befand sich in einer hellen, sauberen Halle. Sie mußte sechzehnhundert Meter lang und dreihundert Meter breit sein. Die Unterseite des untersten Decks bildete weit über ihm die Decke, ein Gewirr aus vom Alter geschwärzten Röhren und Kabeln. Die Halle war leer, bis auf einige dunkle, anonyme Geräte – Gabelstapler? –, die mit Tauen an den Wänden und dem oberen Schott befestigt waren. Morrow fühlte sich verzagt; die Leere dieses riesigen, abgeschlossenen Ortes schien ihn niederzudrücken. Und unter ihm…
Er schaute nach unten.
Der Boden war transparent. Unter seinen Füßen waren Sterne.
12
NACH EINEM TRAUMARTIGEN Intervall von unbestimmter Dauer verspürte Lieserl ein vages Gefühl des Unbehagens – nicht unbedingt Schmerz, aber ein diffuses Stechen, das ihren Körper durchdrang.
Sie seufzte. Wenn dieses Unbehagen sich nicht aus irgendeinem Teil ihres virtuellen Körpers herleitete, dann mußte der
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