Xperten 1.2 - Der Mindcaller
mehr, und beginnt an seinem Verstand zu zweifeln.
Als er eines Abends wieder mit Aroha zusammensitzt, während sie sich beide durch Aufgaben in der Botanik als Vorbereitung für die nächste Prüfung durchkämpfen, kommt er wieder einmal auf das verborgene Tal zu sprechen.
»Wie wär‘s wenn wir am nächsten Sonntag das verborgene Tal besuchen würden? Nur wir zwei?«, fragt er Aroha scheinbar so nebenher, »Ich liebe das Tal, auch wenn es nichts Neues zu entdecken gibt.«
»Mir geht es auch so«, sagt Aroha und freut sich auf den gemeinsamen Tag mit Kevin. »Und ich werde mein Kapakapa mitnehmen, vielleicht hilft es uns.«
»Wann soll ich dich abholen?«
»Du bestimmst die Zeit. Mir ist alles recht.«
»Ist dir sieben Uhr zu früh?«
»Nein, das gibt uns einen langen Tag. Ich freue mich darauf.«
»Ich auch«, sagt Kevin und verschluckt, was er noch gerne gesagt hätte.
Als Kevin am Sonntagmorgen an die Tür von Arohas ‚Wohnung‘ klopft, hat er dunkle Schatten unter den Augen. Er musste die halbe Nacht arbeiten, um sich den Sonntag freihalten zu können. Aroha ist es nicht anders gegangen, und nur die Freude, mit Kevin in ‚ihr‘ Tal zu gehen, machte es ihr möglich, so früh aufzustehen. So müde wie beide sind, genießen sie die Fahrt zusammen, aber ihre Unterhaltung ist einsilbig.
Es ist ein herrlicher Morgen, so wie die Tage oft in Neuseeland beginnen, bevor dann überraschend Regenwolken aufziehen. Das Licht spielt auf den Gräsern der Lichtung.
»Die Lichtung verdient wirklich den Namen Aorama - Welt des Lichtes - den du ihr gegeben hast, Aroha.«
Aroha lächelt. Sie essen, wie so oft bei den Wanderungen, eine Portion Studentenfutter. Kevin gibt Aroha alle Schokoladestücke, die er in seiner Portion findet, weil er inzwischen weiß, wie Aroha das liebt. Und er empfindet es nicht als Arbeit, wenn er ihr ein Stückchen zwischen die Lippen schiebt.
»Das muss wirklich eine der schönsten Stellen der Welt sein«, sinniert Kevin weiter.
Sie sitzen dann in einer angenehmen Stille, die Schultern aneinander gelehnt. Schließlich fragt Kevin.
»Hast du das Kapakapa mit?«
»Ja«, antwortet Aroha, »aber bisher spüre ich nicht viel. Doch was ist das?«, sagt sie auf einmal aufgeregt.
Kevin sieht Aroha ins Leere zu starren und in sich hineinzuhorchen. Nach einigen Sekunden atmet sie tief ein und schaut Kevin an: »Ich habe gerade meine Großmutter ‚gesehen‘. Und sie ruft mich! Ich möchte sie wirklich wieder sehen, Jeannie hat mir das auch schon vorgeschlagen. Und ich möchte meine anderen Verwandten im Marae wieder treffen. Ich weiß, dass ich das tun muss. Auch in der Höhle sah ich einmal kurz das Gesicht meiner Großmutter. Und dann die Göttin des Todes, vielleicht wollte sie mir sagen, dass ich mich beeilen muss, wenn ich meine Großmutter sehen will... sie muss ja bald 80 Jahre alt sein!«
»Ja, ich denke auch, dass du sie besuchen solltest. Wenn du willst, begleite ich dich. Aber wie werden wir das Dorf, den Marae, finden? Kannst du dich so weit zurück erinnern?«
[21] Pauis sind große, in Neuseeland weit verbreitete Muscheln mit schönen perlmutternden Schalen. Sie sind eine Abart der so genannten Abalonen oder Meeresohren, und, obwohl wie Muscheln aussehend, gehören sie zur Familie der Schnecken.
[22] Hongi ist das liebevolle gegenseitige berühren der Nasen, das eine sehr intensive Zuneigung ausdrückt. Etwa wie ein Kuss in Europa.
»Nein, aber ich werde meine Mutter heute Abend anrufen.«
Diese weigert sich am Abend zunächst, Aroha die notwendigen Informationen zu geben. Aber Aroha lässt nicht locker, bis sie schließlich eine einigermaßen gute Wegbeschreibung erhält.
Kevin fährt mit Aroha am nächsten freien Wochenende Richtung Norden. Während der langen Fahrt wird Kevin bewusst, wie wenig er eigentlich über die Kindheit Arohas weiß und fragt, ob sie ihm ein bisschen davon erzählen würde.
»Warum wurdest du als Baby bei deiner Großmutter gelassen, obwohl offenbar deine Eltern zusammen und am Leben waren?«
»Es ist bei Maoris nicht unüblich, dass sich die Großeltern um die Enkel kümmern, wenn die Eltern dies aus irgendwelchen Gründen schwer machen können. Dazu kommt sicher, dass meine Großmutter wollte, dass ich in der Maori-Kultur aufwachse. Aber dann gab es wohl auch handfeste wirtschaftliche Gründe. Meine Eltern waren beide Lehrer in der Stadt. Und andere Jobs waren unmöglich zu bekommen«, erklärt Aroha. »Aber ich kann mich noch ganz deutlich
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