Xperten 1.2 - Der Mindcaller
an den Tag erinnern, als mich Großmutter zu sich rief und ungewöhnlich ernst aussah. Sie hielt einen Brief in der Hand und sagte mir, dass schon am nächsten Tag meine Eltern kommen und mich abholen würden. Ich weiß noch, wie ich fast in Panik zusammen mit Großmutter meine ganzen ‚Schätze‘ in einen Korb packte, vor allem die schönen Paui 21 Muscheln, die ich gesammelt hatte.«
»Und warum glaubst du, haben dich deine Eltern zurückgenommen?«
»Vater war Schuldirektor in einer Schule am Land geworden - kennst du den kleinen Ort Maungaturoto? - und es war daher nicht mehr notwendig, dass Mutter arbeitete. Sie hatten jetzt auch ein Haus als Dienstwohnung. Aber es kam sicher auch dazu, dass sie wollten, dass ich eine gute europäische Ausbildung erhielt.«
Aroha schweigt eine Weile. Dann sagt sie leise: »Ich erinnere mich noch an die Trauer und die Überraschung, als mich Großmutter in Maori-Tradition mit einem Hongi 22 verabschiedete und uns beiden die Tränen aus den Augen stürzten. Im Auto, mit dem mich die Eltern abholten, wurde dann nicht gelacht und nicht viel gesprochen. Irgendwie war es eine unangenehme Stimmung. Am ehesten erinnere ich mich noch daran, dass mir übel wurde, als der Wagen endlos lange über zerfurchte Landstraßen rumpelte. Und, ach ja, ab sofort durfte ich nur mehr Englisch reden.«
Aroha zeigt Kevin die ‚Stadt‘ Maungaturoto, wo sie dann aufgewachsen ist, denn gerade fahren sie an ihr vorbei.
»Und wie war dann dein Leben hier? Und die plötzliche Umstellung?«, erkundigt sich Kevin. »Aber ich will nicht zu neugierig sein, wenn es dich stört.«
Aroha lacht. »Nein, du bist nett, dass du das alles wissen willst. Mein Leben war ja wirklich nicht so aufregend. Ich weiß nur, dass ich mich oft stundenlang versteckte, häufig in den großen Rohren, die die Bäche unter Brücken durchleiten. Ich baute große Hügel und Dämme mit Schlamm im Wasser. Aber, um ehrlich zu sein, die Schule hat mir immer sehr viel Freude gemacht. Auch die Hausaufgaben habe ich besonders geliebt, denn da durfte ich am kleinen Tisch meines Vaters sitzen«, erinnert sich Aroha lächelnd.
»Und hast du viel mit anderen Kindern gespielt?«
Aroha lacht: »Es gab keine anderen Kinder in Reichweite. An den Abenden saßen wir alle zusammen um ein Feuer. Im Freien im Sommer, um den Kamin im Winter, lasen Bücher, und immer spielte leise klassische Musik im Hintergrund. Mir ist nie bewusst geworden, dass man als Kind vielleicht auch anders leben kann.«
»Wie alt warst du, als du mit der Schule fertig warst?«
»Sechzehn«.
Aroha war in der Schule so gut gewesen, obwohl sie zusätzliche Stunden in Französisch und Deutsch über die staatliche Fernschule belegte, dass sie mehrmals eine Klasse übersprang und so die jüngste Maturantin wurde, die man in der ganzen Umgebung je gehabt hatte ...
Inzwischen fahren Kevin und Aroha durch die Stadt Whangarei mit dem schönen Wasserfall im Park, fast im Zentrum und biegen nun, der Wegbeschreibung folgend, nach Osten Richtung Küste ab. Die Asphaltierung wird immer dürftiger. Dann sind sie beim Eingangstor des Marae. Sie bleiben stehen und gehen zum geschnitzten, kleineren Durchlass.
Aroha bleibt wie angewurzelt stehen. Nichts schaut so aus, wie in ihrer Erinnerung. Die Gebäude sehen nicht viel besser aus als mit Stroh gedeckte Notunterkünfte. Eine hübsche junge Frau, die nur einen Flachsrock trägt und Augen wie ihre Großmutter hat, lenkt sie ab. Auch als sie hinter einer Hütte verschwindet, sieht der Marae wieder etwas freundlicher aus. Und trotzdem ist nicht zu übersehen, dass alles klein, überaltet und zum Teil recht heruntergekommen aussieht. Nichts, wie sie sich erinnert. Einen Augenblick glaubt sie, nicht den richtigen Ort gefunden zu haben. Aber als sie bei der ersten Hütte fragt sagt man ihr freundlich, ja, die weise Kepa wohne hier, in der Hütte gleich neben dem allgemeinen Versammlungshaus, das alle Marae auszeichnet. Der junge Bub, der ihr das sagt, bietet sich an, sie zu führen. Aroha ist so aufgeregt, dass sie kaum atmen kann und einen ganzen Schwarm von Schmetterlingen im Bauch spürt. Ihr Führer klopft an die Tür und nur einen Augenblick später umschließt eine alte Frau Aroha mit ihren Armen.
»Ich habe dich erwartet, ich wusste du würdest kommen«, strahlt die Großmutter.
»Aber wie konntest du das wissen?«, fragt Aroha verblüfft.
»Ich hab es einfach gespürt. Du hast viele Jahre nicht an mich gedacht, aber in den
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