Yachtfieber
fände, könnte sie sich am Heck entlangziehen.
Sie rutschte noch einige Zentimeter aus dem Fenster heraus, bis sie befürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren, doch im gleichen Moment fanden ihre Fingerspitzen die Holzleiste. Sie war breit genug und oben tief eingeschnitten, Kim hatte recht, sie bot den Händen guten Halt. Sie durfte nur nicht abbrechen.
Alissa hatte keine Ahnung, ob Zierleisten nicht einfach nur aufgeklebt waren.
Sie schaute kurz zu Kim, konnte sie aber nicht mehr sehen, ihr eigenes Fenster versperrte die Sicht. Gut, sie stieß sich ab. Das Training an der Kletterwand kam ihr jetzt zugute, die vielen Male, da sie die künstliche Felswand an der Außenseite ihres Gymnasiums hochgeklettert war, die kleinsten Felsvorsprünge und Risse ertastend und für sich nutzend. Die Kraft hatte sie, das wußte sie, jetzt kam es nur auf ihr Selbstvertrauen an. Hier hing sie ohne Sicherungsseil. Sie schlug sich den Gedanken sofort aus dem Kopf. Eins, zwei, eins, zwei, zählte sie leise vor sich hin, während sie die Hände nebeneinandersetzte und mit den Füßen am glatten Holz des Hecks Halt suchte. Sie fand keinen, brauchte ihn aber auch nicht, ihre Arme waren stark genug. An einer Stelle des Hecks gab es aber dann einen vorspringenden Holzkeil, groß genug, um mit den Fußballen Halt zu finden, und verankert genug, um sie zu tragen.
Sie legte eine Pause ein, um die Lage zu überblicken. Jetzt durfte sie keinen Fehler machen. Schräg unter ihr rauschte das Schlauchboot neben der »Dogukan« her. Mal stieß es an das Schiff, mal driftete es wieder weg. Wenn sie sprang, mußte sie sicher sein, daß sie gut landete. Es lagen etwa drei Meter zwischen ihr und dem Boot. Alissa überlegte, ob es Sinn machen könnte, sich an der Längsseite des Schiffes
weiterzuhangeln, aber sie konnte keine Leiste oder einen Vorsprung ertasten. Es war tatsächlich nur eine Heckzierde.
Vielleicht sollte sie tiefer gehen, sich an den Keil hängen, den sie jetzt für ihre Füße benutzte. Aber die Idee ließ sich nicht 110
umsetzen, sie mußte den Sprung einfach riskieren. Am günstigsten war der Zeitpunkt wohl, wenn das Boot von außen hereinkam, in Richtung Schiffsrumpf der »Dogukan«. Sie mußte nur den Zeitpunkt erwischen, bevor es durch den Aufprall wie ein Jojo durch die Wellen wieder nach draußen befördert wurde.
Alissa beobachtete die Bewegungen und versuchte eine Regelmäßigkeit zu erkennen, die es aber nicht gab. Langsam brannten ihre Hände, und auch ihre Füße taten weh. Sie beobachtete die Bewegung nach draußen und zählte mit. Gleich würde das Boot wieder hereinkommen, und kurz bevor es ganz unter ihr war, mußte sie springen.
Sie sprang, knallte auf dem prallen Schlauch auf, stürzte aber nach innen und schlug sich den Fuß am Steuerstand in der Mitte des Bootes an. Es tat kurz mörderisch weh, aber die Freude darüber, daß sie es geschafft hatte, überwog. Sie blieb ruhig liegen, bis sie sicher war, daß niemand etwas bemerkt hatte, dann tastete sie den Aufbau rund um das Lenkrad ab. Das war nun die zweite Frage, aber sie konnte gleich darauf erleichtert aufatmen: Der Schlüssel steckte. Was für ein Fluchtfahrzeug ja eigentlich auch klar war, nur daß es ursprünglich nicht um ihre Flucht ging. Sie riskierte ein leichtes Grinsen, tastete dann den Ganghebel ab und schließlich die Leine, mit der das
Schlauchboot an der »Dogukan« befestigt war. Sie verzichtete darauf, die Leine an der »Dogukan« zu lösen, sondern wollte dies am Schlauchboot tun. Sie mußte aber feststellen, daß durch die Fahrt so viel Spannung darauf war, daß sie den Knoten nicht lösen konnte. Alissa schloß die Augen. Sie war kurz vor dem Ziel, ihr mußte etwas einfallen. Sollte sie jetzt entdeckt werden, war alles umsonst.
Sie tastete den Plastiksteuerstand ab und fand eine kleine Einbuchtung ähnlich einem offenen Handschuhfach. Beim Hineingreifen schnitt sie sich, zog schnell die Finger zurück, glitt aber sofort mit der ganzen Hand wieder hinein. Ein extrem scharfes Messer, das eigentlich in eine Scheide gehörte. Klein 111
und kompakt lag es in ihrer Hand, und sie überlegte, wie sie es einstecken könnte, sollte sie erst an Land sein. Aber sie verwarf den Gedanken wieder und begann, das Seil durchzusäbeln. Es dauerte trotz allem eine Weile, und die Ungeduld zerrte an ihren Nerven. Wenn das Polizeischiff auf ihre Seite käme, wenn einer über Bord schaute, wenn ihr Fehlen in der Kabine bemerkt würde – es gab viele
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