Yachtfieber
Klimaanlage einschalten?« fragte sie, erntete aber nur einen von Charas fröhlichen Lachern.
»Träumst du?«
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Angesichts des klapprigen alten Wagens sah Alissa ein, daß hier keine Klimaanlage zu erwarten war, und kurbelte ihr Fenster mit aller Kraft hinunter.
»Falk hat sicher ein besseres Taxi erwischt«, murrte sie dabei.
»Fünf Kilometer wirst du es doch aushalten, dann sind wir schon im Stadtzentrum, und ich glaube kaum, daß er zum Baden an einen Strand fährt.«
Alissa schaute hinaus. »Sieht aus wie überall auf der Welt«, sagte sie. »Wie heißt die Stadt überhaupt, damit ich später weiß, wo ich war?«
»Das ist Heraklion, die Hauptstadt von Kreta. Ziemlich häßlich – bis auf die Altstadt. Wenn wir noch Zeit haben sollten, fahren wir nach Maleme.«
»Und was gibt es da?«
»Einen deutschen Soldatenfriedhof mit 4465 Gräbern!«
»Ach du je.« Sie schaute Chara betroffen an. »Waren wir hier auch?«
»Die Jungs, die dort liegen, waren ungefähr so alt wie wir.«
»Und das sagst du als Griechin? Ich denke, sie haben keinen freundschaftlichen Anstandsbesuch gemacht …«
Chara zuckte die Achseln. »Wenn die, die die Kriege
anzetteln, sie auch ausfechten müßten, gäb’s keine. Und Leben ist Leben.«
Alissa ließ sich in die Rücksitze zurücksinken. Es war ihr schon klar, daß sie auf der Sonnenseite des Lebens lebten, auch wenn ihre Eltern nicht das große Geld hatten. Sie sah die Bilder aus anderen Teilen der Welt, und sie quälten sie manchmal, weil sie es ungerecht fand. Die einen starben wie die Fliegen an Hunger, und die anderen kauften ihren Pudeln Diamantohrringe.
Sie hatte schon oft darüber nachgedacht, welchen Beitrag sie leisten könnte, um die Welt gerechter zu machen – viel Geld verdienen und verteilen? Erstens würde sie nie so viel Geld 192
verdienen, und zweitens blühte auf der ganzen Welt die Korruption. Sie wollte keine Funktionäre und Staatsdiener fett machen, sondern Hilfe bringen. Sozialarbeiterin? Ärztin vielleicht? Oder in die Politik gehen? Aber hatte man da überhaupt noch eine eigene Meinung, wenn der Parteiwille festgelegt war?
»Es tut mir leid«, sagte sie schlicht, und Chara drehte sich nach ihr um.
»Ich denke, du warst nicht dabei«, sagte sie.
»Mir tut unsere ganze unglückselige Geschichte leid, im Sinne der deutschen Geschichte, wenn du verstehst, was ich meine.
Nach 1920 waren die Menschen im Aufbruch, die Frauen warfen die Korsette ab, schwärmten nach Berlin, New York, Paris aus, lebten ihren Traum als Künstlerinnen, waren emanzipiert, trugen Bubiköpfe und rauchten Zigaretten mit Spitze, trafen sich in Künstlerhaushalten, gründeten Salons, diskutierten, debattierten, eroberten ihre eigene Welt, und dann kam der mörderische Rückschritt, dieser Wahnsinnige mit seiner aberwitzigen Vernichtungsmaschinerie und unseren Großeltern, die da mitliefen und mittaten, unvorstellbar! Was wäre gewesen, wenn sie diesen kleinen Postkartenmaler zum Kunststudium in Wien zugelassen hätten? Wohin wäre die deutsche Geschichte ohne Hitler marschiert? Wo wären die Frauen heute ohne diesen gewaltsamen Rückschritt, ohne das deutsche Lieschen mit Mutterkreuz und den Platz hinterm Herd?«
Chara drehte ihr schweres Haar zu einem Knoten und band ein rotes Tülltuch darum, das sie am Handgelenk getragen hatte.
»Tja.« Sie überlegte. »Weißt du, ich ärgere mich bei jeder Entscheidung darüber, daß ich nicht sehen kann, was aus mir geworden wäre, wenn ich den anderen Weg gewählt hätte. Ich bin Fotomodell, hätte aber auch studieren können. Vielleicht verliere ich wertvolle Zeit? Mit dreißig will mich keiner mehr ablichten, aber ich könnte längst promovierte Archäologin sein.«
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»Was?« Alissa beugte sich wieder vor. Der Fahrtwind, der durch die offenen Fenster hereinströmte, zerrte an ihrem Haar und brachte angenehme Abkühlung, ließ sie aber auch
schlechter hören. »Archäologin? Ist das ein Witz?«
»Nein! Ich stehe auf altes Zeug! Auf Geschichte, wie du so schön gesagt hast. Und Griechenland ist schließlich voll davon.«
»Genau deshalb gibt’s hier doch wahrscheinlich Archäologen wie Sand am Meer!«
»Es ist aber meine Leidenschaft, und Leidenschaften muß man ausleben, sonst quälen sie einen ein Leben lang.«
Alissa überlegte. »Ich habe keine Leidenschaft. Ich kann alles so ein bißchen, aber nichts richtig! Und ich weiß überhaupt nicht, was ich werden will, obwohl ich das Abi jetzt in der Tasche habe und in
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