Yelena und der Mörder von Sitia - Snyder, M: Yelena und der Mörder von Sitia
sich an den Ort seines größten Erfolges zurückgezogen. Jenen Ort, wo er am glücklichsten war und alles unter Kontrolle hatte.
„Irys“, unterbrach ich ihr Gespräch mit dem Mediziner, „erzähl mir alles, was du über Tula weißt.“
Sie überlegte eine Weile, und ich konnte die Fragen spüren, die ihr durch den Kopf gingen.
Vertrau mir , sagte ich in ihre Überlegungen hinein.
„Viel ist das nicht“, begann Irys. „Ihre Familie besitzt eine gut gehende Glasmanufaktur in der Nähe von Booruby. Um diese Jahreszeit haben sie immer viel zu tun, und die Brennöfen sind rund um die Uhr in Betrieb. Während der Nacht sollte Tula darauf achten, dass die Feuer nicht ausgingen. Doch als ihr Vater am nächsten Morgen zur Arbeit erschien, waren die Öfen kalt, und Tula war verschwunden. Sie suchten Tag und Nacht nach ihr und fanden sie schließlich halb tot auf einem Acker. Unser Mediziner in Booruby kümmerte sich um ihre Verletzungen. Weil er jedoch keine mentale Verbindung zu ihr herstellen konnte, brachten sie sie zu mir.“ Irys’ Enttäuschung darüber, dass auch sie bisher erfolglos geblieben war, zeichnete sich in ihrer Miene ab.
„Hat Tula Geschwister?“, erkundigte ich mich.
„Mehrere. Wieso?“
Ich überlegte angestrengt. „Ist eines von ihnen etwa in ihrem Alter?“
„Ich glaube, sie hat eine jüngere Schwester.“
„Wie viel jünger?“
„Nicht viel. Ein Jahr oder anderthalb vielleicht“, schätzte Irys.
„Kannst du ihre Schwester hierher bringen lassen?“
„Warum?“
„Mit ihrer Hilfe kann ich Tula möglicherweise zurückholen. Wir müssen es versuchen.“
„Ich lasse sie benachrichtigen.“ Irys wandte sich an den Mediziner. „Hayes, gib mir Bescheid, wenn Tulas Zustand sich ändert.“
Hayes nickte und Irys ging hinaus.
Cahil und ich folgten ihr. Er sagte kein Wort, als wir die Krankenstation verließen und in die Dämmerung hinaustraten. Jetzt, da die Sonne fast untergegangen war, hatte sich die Luft abgekühlt, und eine leichte Brise wehte mir ins Gesicht. Tief atmete ich die frische Luft ein und versuchte, das Entsetzen, das der Anblick des geschundenen Mädchens in mir verursacht hatte, zu vergessen.
Cahil musterte mich von der Seite. „Ganz schön anmaßend von dir zu glauben, sie erreichen zu können, wenn es nicht einmal eine Meister-Magierin schafft“, meinte er und entfernte sich mit schnellen Schritten.
„Ganz schön dumm“, rief ich ihm nach, „aufzugeben, bevor alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind.“
Ohne auf meine Antwort zu reagieren, lief er weiter. Na schön. Jetzt hatte ich einen Grund mehr, ihm zu beweisen, dass er im Unrecht war.
12. KAPITEL
I n dieser Nacht träumte ich von Tulas entsetzlichen Qualen. Immer wieder kämpfte ich gegen ihre Dämonen, bis sie sich schließlich in meine eigenen verwandelten und mir hämisch ins Gesicht grinsten. Lebhafte Erinnerungen an Reyads Folterungen und Vergewaltigung suchten mich im Schlaf heim. Schreiend wachte ich auf. Das Herz hämmerte mir in der Brust, und mein Nachthemd war schweißgetränkt.
Ich fuhr mir mit der Hand durchs Gesicht und versuchte, mich zurechtzufinden. Es musste eine Möglichkeit geben, Tula zu helfen. Da ich nun schon einmal hellwach war, zog ich mich an und ging hinüber zur Krankenstation.
Hayes, der Mediziner, saß zusammengesunken auf einem Stuhl in Tulas Zimmer. Als ich näher ans Bett trat, schreckte er aus dem Halbschlaf auf.
„Ist etwas passiert?“, fragte er.
„Nein. Ich wollte nur …“, fieberhaft suchte ich nach einer plausiblen Erklärung, „ein wenig bei ihr sein.“
Er gähnte. „Kann nichts schaden. Und ich könnte etwas Schlaf gebrauchen. Ich bin in meinem Arbeitszimmer am Ende des Korridors. Weck mich, wenn sich irgendetwas tut.“
Ich nahm auf Hayes’ Stuhl Platz und ergriff Tulas Hand. Nachdem ich den Kontakt zu ihr wieder hergestellt hatte, befand ich mich erneut an dem von ihrem Geist verlassenen Ort. Wie dunkle Schatten flogen ihre Schreckgespenster vorbei. Aufmerksam betrachtete ich sie, um herauszufinden, wo sie am verwundbarsten waren. Wenn Tula erst einmal wieder zurückgekehrt war, würde sie jedes einzelne von ihnen bekämpfen müssen, und ich nahm mir fest vor, ihr dabei zu helfen.
Am nächsten Morgen weckte Irys mich. Ich lag mit dem Kopf auf Tulas Bettkante.
„Bist du die ganze Nacht hier gewesen?“, fragte sie.
„Nur die halbe.“ Ich lächelte und rieb mir die Augen. „Ich konnte sowieso nicht schlafen.“
„Das verstehe ich
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