Yelena und die verlorenen Seelen - Snyder, M: Yelena und die verlorenen Seelen
würde. Ich griff in meine Tasche, zog mein Schnappmesser hervor und ließ die Klinge aufspringen. Mit einer raschen Bewegung schlitzte ich ihm den Bauch auf. Mondmann zuckte zusammen und ließ mich los. Er fiel zu Boden und rollte sich zusammen.
Ich betrachtete Mondmanns reglose Gestalt. Die graue Macht war verschwunden, aber ich war nicht sicher, wie es um seinen Geisteszustand bestellt war. Vielleicht waren der Schock und der Kummer zu viel für ihn gewesen. Nein, unmöglich! Er war doch die ganze Zeit ruhig und gelassen geblieben.
Ich kniete mich neben ihn. Blut floss aus seiner Wunde und tränkte sein Hemd. Ich sammelte Kraft und konzentrierte mich auf seinen Magen. Der Schnitt pulsierte in hellem Rot, und ich spürte den Schmerz in meinem eigenen Bauch. Ich rollte mich auf der Erde zusammen und dachte nur noch an die Verletzung. Meine Zauberkraft heilte die Wunde.
Nachdem ich meine Aufgabe zu Ende gebracht hatte, umklammerte Mondmann meine Hand. Ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, aber er packte noch fester zu. Mein Körper zuckte unkontrolliert, als Bilder von kopflosen Körpern durch meinen Kopf schossen. Sie umringten mich, und als sie näher kamen, um Rache zu verlangen, nahm ich den Gestank von verwesendem Fleisch wahr. Ein neuerliches Zucken ließ die Szenerie eines Schlachtfeldes vor mir auferstehen. Der beißende Geruch von Körperflüssigkeiten und Tod stieg mir in die Nase, während Blut im Sand versickerte. Achtlos hatte man die verstümmelten Leichen auf der Erde zurückgelassen – ein gefundenes Fressen für die Geier.
Mondmann setzte sich auf, und ich versuchte, den Kontakt zwischen uns zu lösen. Unsere Blicke begegneten sich.
„Ist es das, was du in der Schattenwelt gesehen hast?“, erkundigte ich mich.
„Ja.“ In seinen Augen lag grenzenloses Entsetzen, als er sich an die grausamen Bilder erinnerte.
„Gib mir die Erinnerungen.“ Ich spürte, wie er zögerte. „Ich werde sie nicht vergessen.“
„Wirst du ihnen helfen?“
„Kannst du das nicht tun?“
„Ich kann nur den Lebenden helfen.“
„Erzählst du mir auch, wie, oder bekomme ich wieder nur rätselhafte Andeutungen von dir?“
„Du willst doch gar nicht lernen. Du hast dich geweigert zu sehen, was um dich herum los ist.“
„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“
Sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen, und seine Augen wurden trübe. Das schreckliche Wissen um die Qualen, die seinen Leuten widerfahren waren, machte es ihm unmöglich, seine Aufgaben zu erfüllen.
„Gib sie mir. Ich werde versuchen, ihnen zu helfen. Aber jetzt noch nicht.“ Auf meiner Liste voller Dinge, die ich noch zu erledigen hatte, kam der Punkt „Die toten Sandseeds trösten“ ganz ans Ende. Erst wollte ich mich um den Flammenmenschen kümmern, was im Vergleich dazu ein Kinderspiel sein dürfte. Während ich mich selbst belog, ergänzte ich die Aufstellung noch um „Fliegen und Steine in Gold verwandeln“. Wenn schon, denn schon!
Mondmann befreite sich von dem emotionalen Aufruhr, den seine Gefühle in ihm auslösten. Die Bilder würde er zwar nicht vergessen, aber sie würden ihm nicht länger die Luft zum Atmen nehmen. Ich sammelte seinen Kummer, seine Schuldgefühle und seine Angst in meiner Seele. Was für ein gigantisches Massaker! Und alles nur, damit die Würmer zu mehr Macht kamen. So viele Tote! Viel zu viele. Wie konnte man diese Opfer trösten? Vielleicht klappte es, wenn man die Würmer daran hinderte, ihre Stärke zu vermehren. Und wenn sie es nun erneut versuchten? Möglicherweise war es das Beste, die Energiehülle zu zerstören, um es allen unmöglich zu machen, Magie auszuüben. Eine ebenso einschneidende wie verzweifelte Methode, von der ich gar nicht sicher war, ob sie überhaupt funktionierte.
Mondmann ließ meine Hand los und erhob sich.
„Ist es wahr, was du über meine Zukunft gesagt hast?“, wollte ich wissen.
„Ja. Du wirst Sklavin eines Sklaven werden.“ Damit war das Gespräch für ihn beendet. Er kehrte zum Lagerfeuer zurück.
Schweigend aßen wir den Eintopf. Anschließend packten wir, stiegen auf die Pferde und gaben ihnen die Sporen, um so schnell wie möglich zur Grenze von Avibia zu gelangen. Als wir die Straße zwischen der Ebene und den Feldern der Greenblade-Sippe erreichten, wandten wir uns nach Norden Richtung Zitadelle und ließen unsere Pferde langsamer laufen. Zu dieser späten Stunde war die Straße menschenleer.
Jetzt, da die Ebene hinter uns lag, hatten wir zumindest
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