Yolo
präzisieren: »Ich meine, haben Sie das selber schon erlebt?«
»Bei einer Hyperventilation handelt es sich um eine über den Bedarf gesteigerte …«
»Danke, worum es sich handelt, weiß ich. Ich wollte nur wissen, ob Sie das Gefühl des plötzlichen Erstickens selber kennen.«
»Studien besagen …«
»Entschuldigen Sie, Herr Moeller, aber Studien interessieren mich weniger, das sind doch nur Verallgemeinerungen, die Individuen in ein Schema pressen.«
»Niemand will Sie in ein Schema pressen. Anhand der Symptome eines Patienten können wir Ärzte aber eine Diagnose stellen, die unweigerlich zur Einleitung des Heilungsprozesses führt.«
»Davon bin ich nicht überzeugt.«
»Frau Dornbusch … Sorry, Frau Dornbach, ich habe nicht im Sinn, weiter mit Ihnen über Behandlungsstrategien zu diskutieren. Wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie mir gesagt, diese Anfälle von Hyperventilation hätten Sie nur wenige Male vor Ihrer Einlieferung erlitten.«
»Ich hasse den Ausdruck
Einlieferung
, ich bin doch keine Verbrecherin, und dies hier ist kein Gefängnis.«
»Da gebe ich Ihnen Recht.«
»Apropos Ausdruck. Sie haben letztes Mal ein Wort gebraucht, das ich nachschlagen musste. Als Sprachlehrerin eher blamabel, nicht wahr? Doch nun kann ich das Wort sehr passend anwenden: Betrachten wir das Bisherige doch einfach als
Präliminarien
.«
»Nun denn, Frau Dornbach – nutzen wir die Zeit, die uns bleibt. Haben Sie Ihre Träume aufgeschrieben, wie ich Ihnen geraten habe?«
»Ich erinnere mich auch ohne Blatt und Stift, insbesondere an den Traum von letzter Nacht; so vulgär träume ich sonst wirklich nie. Allerdings ist es beim Anfang des Gedichts geblieben: Ich tanz mit einem Schwanz, er ist mein Lutscher … Und erwachend habe ich einen Reim auf Lutscher gesucht.«
»Sind Sie fündig geworden?«
»Ja, Kutscher. Das ergibt allerdings keinen Sinn.«
Da Moeller beharrlich schweigt, rede ich weiter: »Gewisse derbe Wörter wie – eben –
Schwanz
haben mir zeitlebens Mühe gemacht,
Furzen, Arsch
und ähnliches kommen in meinem Alltagsvokabular gar nicht vor. Aber umso mehr in der Sprache der Schüler, die ich täglich unterrichte. Die heutige Generation braucht
furzen, vögeln
und
ficken
mit einer Selbstverständlichkeit, wie ich übers Essen oder das Wetter rede.«
Ehe sich Moeller mit einer Interpretation brüstet, fahre ich fort: »Es ist diese zweite Ebene in mir, die ich nicht zulassen will, wie ich überhaupt vieles ignoriere, das in mir drin ist, um irgendeinen Schein zu wahren – der zwar jedem schnuppe ist außer mir.«
Moeller setzt unserem Zusammensein mit einem Blick auf die Uhr ein Ende.
Die zweite Ebene in mir!
In mir, in dir, in uns – wer lässt sie zu? Wer gräbt freiwillig in die Tiefe, ohne zu wissen, ob sich im Abgrund seiner Seele ein Schatz oder eine Bombe befindet?
Will sich meine liebe Zita ständig im Kreis drehen
… Christians Sätze habe ich früher nie als Floskel empfunden.
»Gestatten Sie?«
Der alte Herr aus Siena setzt sich zu mir auf die Bank, und es ist mir keineswegs unangenehm, dass wir zusammen schweigen. Wir beobachten ein Schwanenpaar, es gleitet mit seinen vier Jungen durch den See. Zwischen Baumkronen die letzten Sonnenstrahlen eines Nachmittags, der mit Regen begann.
»Wieder geht ein Tag seinem Ende zu«, sagt DeLauro.
Nach einer weiteren Weile des Schweigens legt er seine Hand auf meine: »Felizitas, ich hoffe, dass Sie sich sehr bald erholen. Das Leben ist so kurz.«
»In letzter Zeit wäre es mir egal gewesen, wenn es schon zu Ende wäre.«
»Nicht doch, in Ihrem Alter darf man nicht sterben und soll auch nicht ans Sterben denken. Krisen gibt es immer wieder, sie können bewältigt werden, wir können daran sogar wachsen.«
»Aber es gibt doch Momente, wo man sich wirklich am Ende glaubt und nichts mehr einen Sinn zu haben scheint.«
»Darf ich Ihnen mit einem Gedicht antworten? Sein Schlussvers hat sich mir vor vielen Jahren schon wie ein Leitspruch eingraviert:
Doch letztlich liegt des Lebens Sinn allein darin, es zu erhalten – es über alle Zeiten hin fortwährend zu gestalten
.«
DeLauro lässt mir Zeit zum Nachdenken. Nach einer Weile spricht er in ruhigem, beinahe suggestivem Ton weiter: »Manchmal empfinden wir das Leben als Komödie, manchmal ist es ein bloßes Trauerspiel. Aber wir sind nicht in einem Theater; wenn der Vorhang fällt, ist endgültig Schluss. Es gibt keine Alternative, nur das Nichts. Oder sind Sie gläubig, glauben Sie
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