Yolo
Arbeit in der Schule, von den Schülern, die ich mag, und von den guten und befriedigenden Stunden, »denn die gibt es zwischendurch auch.«
»Ganz gewiss gibt es die«, sagt er, »Sie bringen für die jungen Menschen bestimmt viel Verständnis auf, daran zweifle ich nicht.« Sein interessiertes Zuhören schmeichelt mir.
So geht die Zeit dahin, unser Gespräch ist wie ein leichter Flirt – da steht der Zug plötzlich still, und unser Dialog nimmt ein unverhofft jähes Ende: Wir sind in Bologna. Michele muss austeigen.
»Möchten Sie ein Programm unserer nächsten Tournee?«, fragt er und gibt mir einen gefalteten Flyer. Auf dessen Rückseite hat er seine Adresse und seine Handynummer notiert, seine Handschrift ist sehr speziell.
Ich spähe hinaus auf den Bahnsteig – Michele sehe ich nicht mehr.
Obwohl ich lieber vorwärts fahre, wechsle ich nicht hinüber zum jetzt freien Platz. Die Erinnerung an eine Zugfahrt hält mich zurück. Ich bin ein kleines Mädchen, stehe am Fenster und drücke meine Nase platt – und da ist Vaters Stimme: So nahe an der Glasscheibe saust doch alles viel zu schnell vorbei, pass auf, dass dir nicht schwindlig wird. Setz dich wieder hin! Erst durch die Distanz, mit dem Blick in die Ferne hast du einen Überblick. Genau so hat das mein Vater damals wohl nicht gesagt.
Rückwärtsfahren hat etwas Besänftigendes. Was vorbei ist, bleibt ruhig zurück. So soll es auch mit allem Vergangenen sein. Ich will mich an meinen Vater mit zunehmender Ruhe erinnern und die ätzenden Bilder aus dem Altersheim loslassen. Die mit Medikamenten vollgestopften Patienten, die zwanghaft dem Tod entzogenen Greise – sie alle haben mit mir nichts mehr zu tun.
Im Speisewagen ist gerade noch Platz an einem Vierertisch. Der Signore macht keine Anstalten, das Köfferchen vom Sitz neben sich wegzunehmen, seine Frau muss nachgeben. Widerwillig nimmt sie ihre Louis Vuitton-Tasche auf ihren Schoß. Meinen Gruß erwidert sie nicht, er nickt flüchtig. Freudlos blickt das Paar aneinander vorbei. Ausgeredet, gelangweilt. Sie schlecht geliftet, er mit einem gewaltigen Doppelkinn, das den Krawattenknopf erst freigibt, als er jetzt den Kellner herbeiwinkt. Der soll die halb leer gegessenen Teller abräumen. Wein wird nachgeschenkt. Die zwei schweigenden Gesichter erzählen ein Leben, das ihnen keiner neidet. Trotz des Schmucks, den die Dame reichlich zeigt. Das Prestigestück des Gatten ist ein Diamantenklunker am kleinen Finger. Dreißig gemeinsame Jahre, mehr, weniger? Wie viele noch? Im besten Fall haben sie beide resigniert, im schlechten Fall geht zu Hause die Streiterei wieder los.
Aus meinem Bücherregal habe ich versehentlich – oder auch nicht – Erich Fromms
Furcht vor der Freiheit
mitgenommen. Den Titel dürfte hier niemand übersetzen können, was mir recht ist. Fasziniert blättere ich in dem Buch und werde wie früher als Teeny von Fromms Gedanken gefesselt. Dabei waren die Voraussetzungen damals extrem anders. Damals war alles offen, grenzenlos, es gab Tausende von Möglichkeiten.
Aber dann opferst du deine Jugend der Bequemlichkeit, verdrängst den Reiz der Abenteuer, meidest jedes Wagnis, wählst eine mittelmäßige Partnerschaft, lebst für den Job und wähnst dich in deinem unaufgeregten Alltag für ewig aufgehoben – und wirst, was du stets belächelt hast: biederer Durchschnitt.
E questo la realtà.
Aber real ist auch diese Reise!
Sie ist kein Traum. Ich bin wirklich in diesem Zug – im Zug, der zurück in meine Jugend führt.
Ausgerechnet Jutta, eine fremde Frau, hat das erreicht … Sie muss sich endlich melden!
Hier ist die Combox … Versuchen Sie es später
.
Das Paar neben mir steht auf, macht sich zum Gehen bereit. Umständlich. Ein schwaches Nicken, immerhin, als Antwort auf mein »Addio«.
Wo ist Jutta? In Genua? Ist sie, geschwächt und krank, überhaupt abgereist? Oder war das Ganze nur ein Trick? Wollte sie selber vielleicht gar nie ernsthaft fort? Sollte ich am Ende ein Opfer ihrer Exaltiertheit sein?
Es mag am Espresso mit Grappa liegen, an dem Paar, das endlich fort ist, jedenfalls fühle ich eine Zuversicht in mir, die jeder psychiatrischen Behandlung spottet. Ja, mein lieber Doktor Moeller, in deiner ausgebrannten Dornbusch ist wieder Feuer entfacht.
Jutta, auf dein Wohl!
Als ich ins Abteil zurückkehre, erreicht der Zug die Peripherie von Florenz. Ich fiebere dem, was nun kommen mag, entgegen wie ein Kind einem fantastischen Film. Alessandro dürfte darin vorkommen,
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