You are Mine
einen einzigen Moment.«
»Mr. Sargood, ich …«
»Ich hoffe, du kannst meinem Sohn seine Anschuldigungen von vorher verzeihen. Er hat seine Schwester sehr geliebt und scheint zu denken, dass er sich nur fest genug an seine Wut klammern muss, um den Schmerz gar nicht erst aufkommen zu lassen. Er erinnert sich nicht, wie es bei seiner Mutter war – dass verzögerter Schmerz verlängerter Schmerz ist.«
Ich nicke, weil ich nicht weiß, wie ich darauf antworten soll.
Bailey schweigt ebenfalls, sein Gesicht ist gerötet von genau dem Zorn, vor dem sein Vater gewarnt hat. Oder vielleicht ist es auch die Erniedrigung oder die Entrüstung darüber, dass jemand ihn so gut kennt. Darüber, dass dieses Wissen so unverblümt preisgegeben wird.
»Komm, Alex.« Mr. Sargood ergreift meinen Ellbogen und führt mich zur Tür. Automatisch passe ich meine Schritte an seine an – langsam und gleichmäßig, nur zwei alte Männer auf einem Spaziergang.
»Wo gehen wir hin?«, frage ich.
»Zum Zimmer meiner Tochter. Bailey hat dir von ihren letzten Wünschen erzählt?«
»Hat er, ja, aber ich will wirklich nichts haben, Mr. Sargood. Ich fühle mich nicht einmal gut damit, das Geld zu nehmen, wissen Sie, es ist nicht so …«
»Ruhig.« Nur dieses eine Wort, kaum mehr als ein Ausatmen.
Ich klappe den Mund zu.
»Hier spricht deine Trauer, gepaart mit ein wenig – wahrscheinlich sogar mehr als nur ein wenig – Schuldgefühl. Unberechtigt, wie ich dir bereits gesagt habe.« Der alte Mann hustet, und sein Griff an meinem Ellbogen wird fester. »Jetzt hör mir zu. Wir werden hochgehen in das Zimmer meiner Tochter und du wirst dich umsehen und alles betrachten, was sie zurückgelassen hat. Vielleicht gibt es etwas, das du vergessen hast, etwas Kleines, ein Relikt der Kindheit, in der ihr beide so eng verbunden wart. Etwas, das du gerne als Erinnerung an sie haben würdest, wenn die Trauer und die Schuldgefühle nachlassen. Oder vielleicht gibt es auch nichts dieser Art.« Eine kurze Pause, dann spricht er weiter: »Aber du wirst schauen. Weil sie es so wollte.«
Die neue Einrichtung im Wintergarten hatte mich überrascht, aber noch schockierender ist es, Madigans Zimmer mehr oder weniger so wiederzusehen, wie es in meiner Erinnerung aussieht. Die Feen-Tapete, die oft als zu kindlich verdammt, aber trotzdem nie ganz losgelassen wurde, die Bücherregale voller Nancy-Drew- und Narnia-Bücher, das riesige viktorianische Puppenhaus, das ihr am eifersüchtigsten bewachter Besitz war – alles unverändert.
Aber warum nicht. So muss es ausgesehen haben, als sie abgefahren war, und so hatte es hier gewartet, geduldig und loyal, die ganze Zeit, während sie um die Welt reiste. Armer alter Raum, so bald wieder verlassen, nachdem sie endlich zurückgekehrt war, ignoriert, kaum dass sich die Chance auf eine andere Unterkunft ergab. Für mich ignoriert, für meine heruntergekommene Bruchbude und eine Handvoll dämlicher Kids.
Und dann wurde von dem Zimmer erwartet, sie zurückzunehmen.
Der Gedanke daran, wie die erwachsene Madigan unter der rosafarbenen, mit Rüschen versehenen Überdecke schläft, lässt erneut Trauer in mir aufsteigen. Nicht um Madigan, die Frau, sondern um das kleine Mädchen, das vor so langer Zeit in diesem Raum gelebt hat. Das kleine Mädchen, das mir ihre Träume davon anvertraute, was sie werden wollte, wenn sie groß war, ohne je zu vermuten, wie schnell all das hinfällig werden sollte.
Ich drehe mich zu ihrem Vater um, hinter dem ihr Bruder steht.
»Hier gibt es nichts, was ich haben will.«
»Nichts?«, drängt Mr. Sargood. »Bist du dir sicher?«
Was erwartet er, das ich wähle: den Schmuckkasten, der »Bruder Jakob« spielt, den Miniaturflügel aus dem Puppenhaus? Aber er wirkt wie ein Antiquitätenhändler, dessen Waren abgetan wurden, also gehe ich zur Kommode hinüber und hebe das zerbrechliche Einhorn aus mundgeblasenem Glas auf, das Katherine ihrer Tochter zum Geburtstag geschenkt hat. Ich kann mich nicht erinnern, in welchem Jahr.
»Das war von Mum«, sagt Bailey.
»Ich weiß.« Ich drehe das Einhorn in meinen Händen, teste die Spitze seines Horns an einer Fingerspitze und durchlaufe so scheinbar alle Stadien des Nachdenkens. Ich werde es mitnehmen, warum zur Hölle nicht, es wird sie glücklich machen – es wird zumindest ihren Vater glücklich machen – und alles, was ich tun muss, ist es in eine der Kisten im Gästezimmer zu werfen, bevor ich das ganze Zeug morgen früh zur Heilsarmee fahre.
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