You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson (German Edition)
„sieht“ man die Musik, bevor man sie hört, weil Michaels Videos sich so sehr in das kollektive Gedächtnis der westlichen Kultur eingebrannt haben. Genau diese Wirkung hatte er stets beabsichtigt. Seit „Video Killed The Radio Star“ von den Buggles am 1. August 1981 als erstes Video auf MTV ausgestrahlt worden war, hatte Michael diesem neuen Medium seinen Stempel aufdrücken wollen. Er hatte das Gefühl, dass sich die Musikindustrie dieser aufregenden neuen Möglichkeit viel zu langsam öffnete und sie lediglich als neues Marketinginstrument betrachtete. „Videos müssen viel spannender werden“, sagte er. „Sie brauchen einen Anfang, eine Mitte und ein Ende – eine Geschichte!“ Hier klang wieder einmal Mr. Gordy durch.
Besonders aufsehenerregend war das Video zu „Thriller“, das von John Landis’ Horrorfilm American Werewolf inspiriert worden war. Michael engagierte den Regisseur für seinen Clip, und damit stieg das Budget auf 500 000 Dollar. Für ein Musikvideo war das eine astronomische Summe – so astronomisch, dass CBS Records sich weigerten, das Geld lockerzumachen. Das Unternehmen argumentierte, dass die Albumverkäufe ohnehin schon ihren höchsten Stand erreicht hätten und eine solche Investition somit finanziell nicht sinnvoll sei. Michaels Vision übertraf jedoch das gesamte geschäftliche Know-how bei CBS (die später zu Sony wurden) – dort hatte man das Projekt im Grunde schon abgehakt, als sich durch seine Chuzpe die Verkaufszahlen noch einmal steigerten und noch mehr Geld in ihre Kassen gespült wurde.
Schließlich wurde der Clip von MTV und durch den Verkauf von Rechten finanziert, und es entstand ein 14-minütiger Film, der sowohl bahnbrechend als auch schlicht faszinierend war. Mit ihm begann die Ära der Musikvideos, die eine richtige Geschichte erzählten und einen cinematografischen Anspruch hatten. Wieder einmal hatte Michael sich als Querdenker erwiesen und mit seinen Ideen neue Maßstäbe gesetzt – wie bei allem, was er tat. Vor der offiziellen Premiere im Dezember 1983 trommelte er die Familie in dem Kinosaal zusammen, den er im Erdgeschoss von Hayvenhurst hatte einbauen lassen; es war ein kleines Privatkino mit 32 Plätzen und holzvertäfelten Wänden, das von goldgerahmten Schwarzweißfotos von Shirley Temple, den „Kleinen Strolchen“ und Charlie Chaplin geschmückt wurde. Wir nahmen auf den roten Samtpolstern Platz, und Michael trat auf das kleine Podest vor der Leinwand. Er war aufgeregt und nervös; dieses neue Video, sagte er, sei wie ein Film gedreht worden und ihm sei ganz wichtig, dass wir ihm am Ende der Vorführung unsere ehrliche Meinung sagten.
Ich glaube nicht, dass es irgendein Familienmitglied in diesem kleinen Saal gab, das von dem, was wir nun sahen, nicht überwältigt war. Thriller war in musikalischer, choreographischer, filmtechnischer Hinsicht und auch von der Maske her ein Geniestreich. Interessant war besonders die Reaktion der Jüngsten. Rebbies Sohn Austin, damals noch im Krabbelalter, kreischte anschließend jedes Mal, wenn Michael versuchte, ihn zu umarmen. Er schrie und schlug um sich, weil er überzeugt war, das Gesicht seines Onkels könne sich jederzeit in die Fratze des Monsters verwandeln. Es war einem Kind nur schwer zu erklären, dass Michael in Wirklichkeit kein echter Werwolf war – genau das hatte er schließlich auch in dem Clip beteuert.
Die Zeugen Jehovas allerdings hatten keinen Sinn dafür, dass Thriller einen Meilenstein in der Geschichte des Musikvideos darstellte. Der epische Clip war aus Jehovas Sicht „böse und satanisch“, weil er das Okkulte und eine unsichtbare Welt thematisierte, den großen Fürsten der Finsternis und seine hinterhältigen Geister, vor denen in der Bibel gewarnt wird. Deshalb wurde vor der Videopräsentation in letzter Minute noch folgender Warnhinweis hineingeschnitten: „Aufgrund meiner persönlichen Überzeugungen möchte ich betonen, dass dieser Film in keiner Weise Okkultismus gutheißt.“ Das war nicht Michaels Idee. Dieser Satz war auf Druck der Religionsgemeinschaft eingefügt worden, nachdem die Ältesten von zwei Zeugen Jehovas, die mit Michael an dem Clip gearbeitet hatten, über den Inhalt informiert worden waren. Michael schrieb diesen Warnhinweis auch nicht selbst; das übernahm Regisseur John Landis.
Diese ganze Geschichte setzte meinen Bruder unnötig unter Stress. Sie stürzte ihn in einen Gewissenskonflikt zwischen seiner Leidenschaft für die Kunst und seinem
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