Young Sherlock Holmes 2
von Obszönitäten und Beschimpfungen vor sich hinmurmelnd, hinter sich her.
Durch ein Oberlicht in der Decke fiel Sonnenlicht herein und erleuchtete den spärlich eingerichteten Flur. Die Schritte des Mannes hallten laut auf dem gefliesten Boden wider.
Mit der linken Hand stieß er eine Tür auf und zerrte Sherlock in den dahinterliegenden Raum hinein. Offenbar handelte es sich um ein Empfangszimmer. Es war mit bequem aussehenden Stühlen möbliert, die mit Stoff aus edlem Chintz bezogen waren. Die über den Rückenlehnen drapierten Schonbezüge waren vermutlich dazu gedacht, den teuren Stoff darunter vor dem Haaröl der zu Besuch kommenden Gentlemen zu schützen. Hier und da standen kleine Beistelltischchen mit nichts anderem als Spitzendeckchen darauf. Ebenso wie der Flur wirkte auch dieser Raum nur halb möbliert und machte irgendwie nicht den Eindruck, als ob hier jemand wohnte. Ein Haus, aber kein Zuhause.
Und auf dem Fußboden … Du meine Güte! Was war das? Sherlock konnte kurz einen Blick auf ein paar Stiefel und den unteren Teil eines Körpers erhaschen, der, seiner Lage nach zu schließen, mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich liegen musste. Doch da wurde Sherlock auch schon weitergezogen und auf einen Stuhl geworfen.
Sherlock griff sich in die Haare, um seine Kopfhaut zu untersuchen, und tastete nach Blut oder kahlen Stellen, aber alles fühlte sich ganz normal an. Abgesehen von den Schmerzen, die alles andere als normal waren.
»Bitte!«, rief er im Bestreben, weiterhin das unschuldige Opfer zu mimen, das nur zufällig am Haus vorbeigekommen war. »Lassen Sie mich doch gehen. Meine Eltern werden sich Sorgen um mich machen! Wir wohnen nur ein Stück weiter die Straße runter.«
Der Mann mied beharrlich Sherlocks Blick. Stattdessen warf er wie ein Vogel ständig seinen Kopf hin und her, während er pausenlos zwischen Fenster und Tür auf- und abmarschierte.
Und so hatte Sherlock Zeit, den Mann genauer unter die Lupe zu nehmen. Vor der Haustür hatte er bloß das zerstörte Gewebe auf dessen linker Gesichtshälfte wahrgenommen. Aber jetzt konnte er seinen Peiniger in Ruhe von oben bis unten betrachten und würde so vielleicht etwas entdecken, was ihm weiterhelfen könnte.
Der Anzug des Mannes war von guter Qualität, so viel stand schon einmal fest. Der Stoff war schwarz und ziemlich fein, und das Jackett und die Hose saßen so perfekt, dass Sherlock zu dem Schluss kam, dass sie von einem Schneider angefertigt worden waren, der sein Handwerk verstand. Denn das Jackett hing nicht wie ein Wollsack mit Ärmeln an dem Mann herunter, so wie man es in der Gegend um Farnham häufig zu sehen bekam. Aber der Schnitt hatte trotzdem etwas Merkwürdiges an sich … etwas … irgendwie Ausländisches. Unwillkürlich registrierte Sherlock, wie sich ein Teil seines Verstandes mit der Frage beschäftigte, ob sich wohl allein anhand des Schnittes und des Nadelstichmusters prinzipiell feststellen ließ, von welchem Schneider ein Anzug stammte. Oder zumindest ob der Schneider in einem bestimmten Stil arbeitete – zum Beispiel in einem deutschen, englischen oder amerikanischen.
Der Mann war sehr dünn und seine Handgelenkknöchel und der Adamsapfel traten deutlich hervor. Von der rechten Seite aus betrachtet, wies sein Gesicht mit dem dominanten Schnurrbart und dem Ziegenbärtchen schöne klassische Züge auf. Doch die andere Gesichtshälfte wirkte wie eine Ruine. Die leuchtend rote Haut war zerklüftet wie die Oberfläche des Mondes. Auf dieser Seite war der Bartwuchs nur kümmerlich, und die einzelnen Stoppeln stachen wie verkohlte Baumstammreste nach einem Waldbrand aus der Haut hervor. Die Augenhöhle war nur noch ein von rotem Narbengewebe umrandetes Loch.
»Mister …«, begann Sherlock, doch der Mann schnitt ihm mit einer abrupten Geste das Wort ab.
»Still!«, befahl er. Seine Stimme klang durchdringend, aber der weinerliche Ton, der darin lag, ließ Sherlock schaudern. »Halt den Mund, du kleiner Bastard!«
Er sprach mit einem Akzent. Einem Akzent, der nicht aus England stammte, sondern eher an die Art und Weise erinnerte, wie Amyus und Virginia Crowe sprachen. Aber trotzdem klang er irgendwie anders, vielleicht etwas kultivierter. Und er sprach, als würde er vor einem Publikum reden. Er bot im Grunde genommen eine Aufführung und tat so, als stünde er auf einer Bühne und würde Theater spielen. Zu Hause auf dem Anwesen seiner Eltern in Reigate hatte Sherlock einige sich unendlich lang
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