Young Sherlock Holmes 3
– der, der mich in den Katakomben unter Waterloo Station angegriffen hat, der hat doch zugegeben, dass Mycroft eine Falle gestellt wurde. Jemand anderes hat den Mord begangen.«
»Das ist eine Tatsache. Aber die Polizei wird eine Weile brauchen, um die Beweise zu finden, die deinen Bruder entlasten. Das Entscheidende ist, dass der Anwalt des Diogenes Clubs ihnen nun den richtigen Weg weisen kann.« Crowe runzelte die Stirn. »Was mich momentan eher beunruhigt, ist, dass die Leute, die Mr Holmes reingelegt haben, immer noch irgendwo da draußen sind, ohne dass wir ihre Motive kennen oder wissen, was sie als Nächstes vorhaben.«
»Sie glauben, dass sie noch mal versuchen könnten, ihm einen Mord in die Schuhe zu schieben?«
Crowe zuckte die Achseln. »Kann ich nicht ausschließen. Aber da er einmal vom Mord freigesprochen wurde – gehen wir mal davon aus, dass es so kommt –, ist es unwahrscheinlich, dass die gleiche Masche noch mal zieht. Während des Bürgerkrieges hatten wir da so ein beliebtes Sprichwort: Einmal ist Zufall, zweimal ist Feindeswerk. Selbst die Polizei wird das erkennen. Nein, ich glaube, wir müssen uns auf etwas anderes gefasst machen. Auf einen anderen Plan.«
»Aber was sollen wir denn jetzt machen? Wie können wir Mycroft schützen?«
Crowe ließ eine Weile den Blick auf Sherlock ruhen. Seine blauen Augen hatten einen täuschend abwesenden Ausdruck, aber Sherlock wusste, dass diese Augen alles sahen. »Du bist deinem Bruder gegenüber sehr treu, nicht wahr? Viele in deinem Alter würden ihre älteren Geschwister einfach ihrem Schicksal überlassen, du aber nicht. Du willst ihn beschützen.«
Sherlock wandte sich ab, damit Crowe nicht den feuchten Schimmer in seinen Augen sehen konnte. »Vater ist in Indien«, sagte er schließlich. »Mutter ist krank. Und unsere Schwester … nun ja, sie ist nicht mehr in der Lage zu helfen. Mycroft ist alles, was ich habe, und ich bin alles, was er hat. Wir müssen aufeinander aufpassen.« Er musste trotz allem lächeln. »Und vermutlich ist Ihnen schon aufgefallen, dass er nicht zu den aktivsten und gewandtesten Menschen gehört. Ohne Hilfe kommt er nicht einmal von einem Ende der Stadt ans andere.« Er lachte. »Ich habe mal gehört, dass ihn jemand zu sich auf seinen Landsitz zum Essen eingeladen hat. Normalerweise würde Mycroft solche Einladungen nicht annehmen. Aber der Besitzer des Anwesens hatte einen außergewöhnlichen Weinkeller, und sein Koch war berühmt wegen seiner Desserts. Also ist Mycroft über seinen Schatten gesprungen und hat besondere Anstrengungen unternommen. Er ist mit einer Droschke zum Bahnhof gefahren, hat dort einen Zug bestiegen und eine einstündige Bahnfahrt auf sich genommen. Am Zielbahnhof ist es ihm sogar gelungen, gleich eine Droschke zu erwischen, die ihn zum fünf Meilen entfernten Anwesen brachte. Das letzte Stückchen der Reise bestand dann aus einem Spaziergang, der ihn einen kleinen Hügel hinauf bis zur Eingangstür geführt hätte. Er aber hat nur einen Blick auf den Anstieg geworfen, auf dem Absatz kehrtgemacht und den Kutscher angewiesen, ihn zum Bahnhof zurückzufahren. So ist mein Bruder nun mal. Er ist phänomenal intelligent, aber nicht im Mindesten praktisch veranlagt.«
»Und du liebst ihn.«
»Er ist mein Bruder. Natürlich liebe ich ihn.« In Verlegenheit geraten angesichts der Erörterung solch persönlicher Gefühle, warf Sherlock einen scheuen Blick zu Crowe hinüber und fragte: »Haben Sie einen Bruder?«
Crowes Gesicht schien sich in eine Maske aus Stein zu verwandeln. »Das Thema möchte ich nicht anschneiden«, sagte er, und seine Stimme klang, als würden zwei Steine aufeinanderreiben.
Eine Weile herrschte Schweigen, während sie ihr Frühstück einnahmen. Schließlich schaute Crowe sich um und wies auf einen jungen Kellner, der gerade einer Familie das Frühstück servierte. »Lass uns sehen, wie viel du von dem behalten hast, was ich dir in der letzten Zeit beigebracht habe. Was kannst du mir über ihn verraten?«
Sherlock überlegte. »Ich erinnere mich an ihn noch vom letzten Mal, als wir hier waren.« Er musterte den Mann von oben bis unten. »Seine Uniform ist etwas zu kurz, und die Hose ist einige Male geflickt worden. Ganz offensichtlich hat er sie schon eine ganze Weile getragen, ohne sie durch eine neue zu ersetzen. Entweder ist sein Gehalt gering oder er gibt es für andere Sachen aus. Obwohl seine Schuhe neu und gut poliert sind, was im Widerspruch zur Erscheinung seiner
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