Young Sherlock Holmes 3
Gefühl, dass er Mycroft verteidigen sollte.
»Trotzdem, ich hätte eigentlich gedacht, dass er, wo er dich doch unter seine Fittiche genommen hat, darauf bedacht sein müsste, sich um dich zu kümmern, statt dich einfach nur dir selbst zu überlassen.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Er scheint sich nicht sehr für dein Wohlergehen zu interessieren.«
»Er muss an viele Dinge denken.« Sherlock spürte, dass sie dabei war, einen wunden Punkt zu berühren, und er versuchte, das Thema zu wechseln. »Sind Sie schon lange Schauspielerin?«
Sie blickte aus dem Fenster an ihm vorbei. »Oh, manchmal habe ich das Gefühl, ich schauspielere schon mein ganzes Leben lang«, murmelte sie.
Während sie immer weiter nach Osten gelangten, änderte sich nach und nach die Landschaft. Das kleine bisschen von Frankreich, das Sherlock zu Gesicht bekommen hatte, sowie die weiten belgischen Landstriche, durch die sie gefahren waren, bestanden aus einer Mischung aus dunkelgrünen Wäldern und lichtgrünen Feldern. Doch als sie durch Preußen reisten und schließlich nach Russland gelangten, wurde das Land immer sumpfiger, und die Temperaturen fielen stetig, so dass schließlich kleinere Teiche von Eis überzogen waren und Schnee den Boden bedeckte. Die Menschen kamen ihm auf einmal kleiner und düsterer vor. Aber vielleicht spielten da auch die dichten tiefen Wolken, die dauernd über dem Land hingen, seinen Sinnen einen Streich.
Einmal begab sich Sherlock weiter den Gang im Waggon hinunter, um zu sehen, wie es Mycroft ging. Von einem wahren Kissenberg gestützt, saß sein Bruder in seinem Abteil und sah entschieden schlecht aus. Er war von aufgeschlagenen Büchern umgeben und anscheinend gerade dabei, etwas in ein kleines Notizbuch zu schreiben. Er blickte empor, als Sherlock anklopfte und die Tür aufschob.
»Ja?«
»Ich wollte nur sehen, ob du in Ordnung bist.«
»Nein, bin ich nicht. Das ewige Zuggeratter bringt mein ganzes Verdauungssystem durcheinander. Ich versuche, mich mit Büchern abzulenken, aber ohne großen Erfolg.«
»Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?«
»Lass mich einfach in Ruhe leiden«, blaffte Mycroft. »Im Moment ist mir nicht nach Konversation.«
Sherlock zog sich zurück und schloss die Tür. Einen Moment lang stand er vor dem Abteil seines Bruders, unsicher, was er machen sollte. Er konnte sich nicht erinnern, sich je so einsam und nutzlos gefühlt zu haben, seit er damals zum ersten Mal das Haus seines Onkels und seiner Tante in Farnham betreten hatte.
Er wandte sich zum Gehen, als ihm plötzlich etwas ins Auge fiel. Es lag unmittelbar vor der Tür zu Mr Kytes Abteil, direkt am Türrahmen: ein kleiner brauner Gegenstand von der Größe und Form seines Daumens, an dem eine dünne Kordel oder Schnur befestigt war. Er bückte sich, um ihn aufzuheben. Als Daumen und Finger sich darum schlossen, gab das Objekt leicht unter dem Druck nach, und schockiert wurde ihm klar, dass es sich um eine Maus handelte. Eine tote Maus. Und das Ding, das er für eine Kordel gehalten hatte, war ihr Schwanz.
Eine tote Maus? Er vermutete, dass es in Zügen wohl ebenso wie in Häusern Mäuse gab. Er blickte sich um, um sie irgendwo loszuwerden, als sich die Tür zu Mr Kytes Abteil plötzlich einen Spalt weit öffnete und der vierschrötige rotbärtige Mann ihn anstarrte. »Ja?«, schnaufte er. »Was gibt’s?«
»Nichts«, erwiderte Sherlock. »Ich habe nur … gerade mal bei Mr Sigerson vorbeigeschaut.« Er ließ die tote Maus in seine Tasche gleiten. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht ganz verstand, wollte er nicht, dass Mr Kyte etwas davon mitbekam.
»Wenn dir langweilig ist«, schnaubte Kyte, »geh zu den anderen Jungs und lern sie kennen. Du wirst in den Kulissen und bei den Requisiten mit ihnen zusammenarbeiten müssen.«
Mit diesen Worten schob er krachend wieder die Tür vor Sherlocks Nase zu.
Tatsächlich hatte Sherlock in den drei Tagen in London, während denen er eingewiesen wurde, wie man Kulissen aufzog und Requisiten auf der Bühne bewegte, die vier jüngeren Mitglieder des Ensembles bereits ziemlich gut kennengelernt. Um sich die Zeit im Zug zu vertreiben, gab Sherlock schließlich ihren Bitten nach, ihnen beim Kartenspiel Gesellschaft zu leisten. Innerhalb eines Tages hatten sie ihn in die Regeln des Whist und Bakkarat eingeweiht; und mit Hilfe seines mathematisch orientierten Geistes – ganz zu schweigen von dem guten Gedächtnis, das in den Genen der Holmes Familie zu liegen schien –
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