Young Sherlock Holmes 4
fühlte, um den Kopf wieder um die Ecke zu stecken, war der Mann verschwunden.
»Was ist da drin?«, fragte er Matty.
Matty tat es seinem Freund nach und lugte direkt unter Sherlocks Kopf ebenfalls um die Ecke. Er schnüffelte. »’Ne Ledergerberei«, sagte er bestimmt. »Die kriegen die Kuhhäute von den Farmen und Schlachthöfen in der Umgebung und richten sie zu, um sie zu Leder zu verarbeiten.«
»Zurichten?«, fragte Sherlock. Er hatte den Ausdruck schon einmal gehört, war sich aber nicht sicher, was genau er in diesem Zusammenhang bedeutete.
»Ja.« Matty blickte verächtlich zu ihm empor. »Du solltest echt mal mehr rauskommen. Zurichten ist das, was sie machen, um Tierhäute in Leder zu verwandeln. Es macht sie härter und langlebiger und schützt sie außerdem vorm Verrotten.«
»Und wie machen sie das?«
»Mit scharfen Messern kratzen sie so viel Fleisch von der Haut wie möglich. Dann waschen sie sie in irgend so einer Chemiebrühe.«
Sherlock schnüffelte erneut und spürte das beißende Stechen von Ammoniakgas in Nase und Rachen. »Ja, das kann ich riechen.«
Matty verzog das Gesicht. »Die kannst du überall in Farnham riechen. Die Chemikalien, die sie zum Zurichten der Häute benutzen, werden aus ziemlich üblen Zutaten zusammengemixt.«
Sherlock runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Na ja, lass mich mal so sagen … ein Kerl hat mir mal erzählt, dass die Brühe auch Harnstoff genannt wird.«
Sherlock dachte einen Augenblick lang nach. Harnstoff. Das klang eigentlich nicht schlimm. So wie … Oh. Ja. Es klang wie
Harn, Urin
. Mit zusammengezogenen Brauen blickte er auf Matty hinab. »Willst du mir etwa sagen, dass die zum Ledergerben
Urin
benutzen?«
Matty nickte. »Das und noch anderes Zeugs. Aber glaub mir, das willst du dir nicht mal vorstellen. Nimm einfach nur meinen Rat an: Halt dir die Nase zu, wann immer du auch an der Bude da vorbeimarschierst.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hab’ mal ’ne Story über einen Burschen gehört, der da gearbeitet hat. Der hat versucht, die Häute mit einem langen Stab in den großen Tanks umzurühren, die sie da benutzen. Aber er hat das Gleichgewicht verloren und ist reingefallen.«
Sherlock riss unwillkürlich die Augen auf. »Reingefallen? In die …?«
»Ganz genau.«
»Was ist passiert?«
»Er ist ertrunken.«
»Ertrunken in …?«
»Ja.« Matty schauderte. »Wenn ich mal sterbe, möchte ich das friedlich tun. Am besten im Schlaf. Und nicht ersaufen in so einer Brühe von …«
»Wir müssen da rein«, unterbrach Sherlock ihn entschlossen.
»Was?«
»Ich sagte, wir müssen da rein.«
»Bist du irre?«
»Josh Harkness ist da reingegangen.«
»Ja. Ich weiß. Das mein’ ich ja. Erstens riecht die Bude da übler als dieses Klohäuschen auf dem amerikanischen Bahnhof, aus dem du mich letztes Jahr gerettet hast – das, nebenbei gesagt, gestunken hat, als wäre jemand drin stecken geblieben und dort verreckt –, und zweitens treibt sich da drinnen der gefährlichste Typ im Umkreis von hundert Meilen herum. Also manchmal, Sherlock, muss ich mich wirklich über dich wundern.«
Sherlock seufzte. »Schau mal, ich wünschte, es wär’ nicht nötig. Aber er hat irgendwelche Informationen über meine Familie. Er erpresst meine Tante und meinen Onkel. Das sind nette Leute. Sie haben nie jemandem etwas zuleide getan, und sie haben sich jetzt schon über ein Jahr lang um mich gekümmert. Ich bin es ihnen einfach schuldig, etwas zu unternehmen.« Er blickte die Straße hinunter und spürte, wie sich ein grimmiger Ausdruck auf seinem Gesicht breitmachte. »Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich keine Erpresser mag.«
»Na schön.« Matty musterte die Umgebung. »Durch die Tür da zu gehen, wär’ reine Zeitverschwendung. Harkness hat sie wahrscheinlich hinter sich abgeschlossen. Und selbst wenn nicht, wissen wir nicht, wohin sie uns führt. Gut möglich, dass wir geradewegs in einen Raum voller Leute stolpern. Da um die Ecke rum ist ein Fenster mit kaputten Scheiben. Da könnten wir wahrscheinlich reinkommen.«
»Woher weißt du eigentlich, dass da ein kaputtes Fenster ist?«
Matty blickte Sherlock leicht genervt an. »Weil ich genau über sämtliche kaputten Fenster in Farnham informiert bin – nur für den Fall, dass sich das mal als nützlich erweisen könnte. Du glaubst ja gar nicht, was die Leute so alles auf ihren Küchentischen liegenlassen. Auch wenn ich in diesem Fall beschlossen habe, die Gelegenheit
Weitere Kostenlose Bücher