Ysobel – Das Herz aus Diamant
nachgiebig und weich machten.
»Mignonne, kleine, stolze Prinzessin. Es gibt kein Mädchen im ganzen Königreich, das so süße Küsse verschenkt!« Sein Mund glitt über ihren Hals, koste ihre Mundwinkel, und sanft zog er die Linie ihrer Lippen nach.
Unter den geflüsterten Komplimenten und seinen Zärtlichkeiten schmolz Ysobel dahin. Das Rauschen ihres Blutes verband sich in ihren Ohren mit dem Raunen des Meeres. Das Wasser begann wieder zu steigen, und wie die Flut stieg auch der Wunsch in ihr auf, sich hinzugeben und aufzulösen. All die Dinge kennen zu lernen, die am Rande ihres Bewusstseins lauerten. Energisch verbannt und doch unzweifelhaft vorhanden und drängend.
»Komm mit, Mignonne, ich weiß eine versteckte Höhle mit weichem, trockenem Sand, wo uns niemand entdecken wird ...«
Ysobel hätte ihm sagen können, dass es keine Höhle an diesem Strand gab, die sie nicht als Kind gemeinsam mit ihrem Bruder erkundet hatte, aber das musste in einem anderen Leben gewesen sein. Jetzt schwebte sie in einem Zwischenreich, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Am Horizont blitzte zwischen den jagenden grauen Wolken das Feuerschwert der Sonne auf, die sich im Westen senkte. Ysobel schloss geblendet die Lider.
»Hab keine Angst, ich werde dir nicht weh tun«, flüsterte Jos. »Es gibt viele Möglichkeiten, einem hübschen Mädchen Freude zu schenken, du wirst sehen. Vergleich mich nicht mit den rohen Burschen, mit denen du bisher deine Zeit vertan hast ...«
Sie vernahm den unterschwelligen Groll in seiner Stimme und fragte sich, was es zu bedeuten hatte. Freilich hätte es Jos selbst kaum vernünftig zu erklären vermocht. Der Gedanke, dass andere, rohe und rücksichtslose Hände sie vor ihm berührt haben mussten, machte ihn dermaßen wütend, dass er an sich halten musste, um nicht zu fluchen. Sie war für ihn bestimmt, für ihn allein. Das wusste er in diesem Moment mit unerschütterlicher Gewissheit.
Aber was erwartete er von ihr? Eine hübsche Magd, die so aussah wie sie, hatte mit Sicherheit schon vor vielen Jahren die Aufmerksamkeit der Männer in der Burg und in den Dörfern ringsum erregt. Vermutlich war das auch der Grund dafür, dass sie keinen Mann hatte. Gebrauchte Ware liebten nicht einmal die einfachsten Fischer, und so hinreißend sie aussah, schien sie doch bereits über das Alter hinaus zu sein, in dem die Mädchen eine Ehe eingingen.
»Ich habe noch nie meine Zeit mit einem Mann vertan«, entgegnete Ysobel in diesem Moment. Sie mochte den Ton nicht, in dem er plötzlich mit ihr sprach. Sie hasste es, zu lügen, aber sie konnte nicht wissen, dass er genau diese Art von trotziger Wahrheitsliebe für ein typisch weibliches Täuschungsmanöver halten würde.
»Schscht!« erwiderte er ungeduldig. »Ich mache dir keine Vorwürfe. Aber du wirst sie alle vergessen, das verspreche ich dir ...«
Ysobel blinzelte verwirrt. Er glaubte ihr nicht. Wieso lag ihr eigentlich so sehr daran, dass er ihr vertraute? Eine Möwe schoß kreischend über ihre Köpfe hinweg und hob sich mit dem böigen Wind über die schroffen Felsen der Küste. Ysobel spürte die Umrisse des geschnitzten Holzvogels in ihrer Rechten und umklammerte ihn wie ein Segen bringendes Amulett. Ein Mann, der so schöne Dinge aus einem simplen Stück Holz erschaffen konnte, war kein gewöhnlicher Schurke. Wenn er dennoch Dinge sagte, die ihr missfielen, dann sollte sie vielleicht mehr auf jene achten, die er verschwieg, die sie aber fühlen konnte, ohne dass er ein Wort darüber verlor.
Da war eine besondere Art von ruhiger, sicherer Kraft um ihn, die ihn als einen Mann auswies, der sich keinem fremden Willen unterwarf. Er hatte es mit Sicherheit nicht nötig, anderen Menschen Schmerz zuzufügen, um sich stark vorzukommen. Er würde nie einer Frau Gewalt antun und sich an ihren Tränen erfreuen.
Heilige Anna, das waren verbotene Pfade, die sie betrat. Nicht daran denken, sich auf die Gegenwart konzentrieren. Auf die Konturen des hölzernen Vogels. Fort mit den düsteren Erinnerungen!
»Hier, komm! Wenn du dich ein wenig bückst ...«
Ysobel hatte es getan, ehe er die Worte aussprach. Die kleinen Härchen in ihrem Nacken sträubten sich. Kannte er den Gang, der tief hinter den Felsen versteckt von dieser kleinen Höhle aus weiterführte, bis er irgendwann die Keller der Burg erreichte? Oder war es reiner Zufall, dass er sie ausgerechnet zu dieser Stelle führte?
»Diese Felsen sind das reinste Labyrinth, hast du das gewusst?«,
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