Ysobel – Das Herz aus Diamant
an seinem Hemdsärmel. Die schmale, höchst unregelmäßige Treppe mit den ausgetretenen Stufen wendelte sich offensichtlich in einem der Türme nach oben. Regelmäßig angebrachte Luftscharten ließen den Westwind herein, aber sehen konnte man sie gegen das nächtliche Dunkel nicht.
Ysobel huschte so flink um die Kehren, dass er Mühe hatte, ihr zu folgen. Als sie vor einer schmalen Rundbogenpforte anhielt, kam es ihm so vor, als müsse er inzwischen höher als die höchsten Wehrgänge der Burg sein. Die Art, wie sie in achtsamer Langsamkeit den Riegel so lautlos wie möglich zu heben versuchte, bewies ihm, dass es ihrer Meinung nach gefährlich wurde. Trotz der Mahnung glitt seine Hand an den Gürtel und versicherte sich, dass der Dolch an Ort und Stelle steckte.
Mit äußerster Vorsicht zog Ysobel die Pforte auf und horchte in das stockdunkle Gemach, das vor ihnen lag. Erst nach einem langen Atemzug wandte sie sich um und bedeutete Jos einzutreten. Er hörte, wie sie Feuer schlug, und als sie eine Kerze nach der anderen entzündete, sah er sich in dem kalten Gemach um, das vage nach Kräutern und vergangenen Sommern duftete.
Das Licht enthüllte ein großes rechteckiges Gemach, dessen Fenster mit hölzernen Läden verschlossen waren. Ein mächtiger Alkoven mit kostbar geschnitzten Säulen stand leer und ohne Vorhänge auf einem Podest. Auch die übrige Einrichtung, Tisch, Stühle, Betschemel und Truhen, war gleich dem Bett mit einer alten Staubschicht bedeckt und kündete wie der leere Kamin von Vernachlässigung.
Die Kerzenreste in den bronzenen Leuchtern flackerten unruhig, rastlose Schatten tanzten über die Kaminumrandung. Das mächtige Wappen auf einer schweren Bronzeplatte über der Feuerstelle mahnte an die Tradition der Familie, welche seit vielen Generationen über Land und Burg herrschte und deren letzter Vertreter ihre ehrenwerten Grundsätze so schändlich verriet. Vielleicht lag es an dem müden Sommerduft, dass er trotz allem ein fast vergessenes Gefühl von Geborgenheit zwischen diesen vier Wänden verspürte.
»Wo befinden wir uns?«, erkundigte er sich.
»Das ist das ehemalige Schlafgemach der Barone von Locronan!«, sagte Ysobel heiser. »Da es Dame Thildas hohen Ansprüchen nicht genügte, hat man es vor vielen Jahren aufgegeben. Vielleicht auch deswegen, weil die Sage behauptet, dass bei Vollmond eine längst verweste Dame von Locronan ihren verschwundenen Liebsten in diesen Mauern beweint. Andere erzählen wieder, man höre in solchen Nächten Dahuts verzweifelte Seufzer, die für immer dazu verdammt sei, auf die Bucht zu starren, in der die goldene Stadt Ys untergegangen ist.«
»Ein Schlafgemach mit einem Gespenst und einer Geheimtreppe!« Jos grinste. Er wandte sich zu der Pforte um, die unsichtbar in der Kaminumrandung verschwand. »Anscheinend hatten die Barone von Locronan schon immer einen Hang zum gefährlichen Abenteuer.«
»Unsinn«, sagte Ysobel unwirsch. Ihr Vater war eher ein Kaufmann als Ritter gewesen und noch viel weniger ein Abenteurer. »Es ist die Treppe für die Mägde und die Kammerfrauen. Das Küchenhaus liegt nach alter Sitte im Hof, und auf diese Weise konnten die Frauen der Herrin aufwarten, ohne dass sie umständlich durch die Halle laufen mussten.«
»Ist es nicht eher möglich, dass sich die Herren von Locronan einen Fluchtweg ans Meer offen halten wollten, der nicht von jedermann eingesehen wird?«, vermutete Jos de Comper misstrauisch. »Wie seltsam, dass ausgerechnet der jetzige Herr darauf verzichtet, in diesem Raum zu wohnen. Man könnte meinen, er benötige bei dieser Art von Geschäften eine zusätzliche Sicherheit ...«
Ysobel gab einen ungeduldigen Laut von sich. »Dame Thilda fand die alten Räume zugig und nicht geeignet für eine Dame von Stand. Sie hat auf den Anbau neben dem Südturm bestanden, wo die Steinmetze, Maurer und Zimmerleute alles genau nach ihren Wünschen fertigen mussten. Es gibt dort sogar ein Badekabinett mit eigenem Abfluss in den Burggraben und kostbare Fenster aus bunten Glasrauten. Steinernes Maßwerk schmückt die Geländer und die Wände sind von Meisterhand bemalt und mit bunten Behängen aus feinstem Seidengarn geschmückt.«
Die Art, wie sie bei dieser nüchternen Rede mit den Fingerspitzen über die Kaminumrandung strich, verriet Jos ohne große Worte, dass sie die traditionelle Kammer des Seigneurs vorgezogen hätte, wäre sie jemals vor die Wahl gestellt worden.
»Für dich schlägt das Herz von Locronan immer
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