Ysobel – Das Herz aus Diamant
noch hier«, sagte er, und Ysobel nickte.
Wie konnte er das wissen? Sie sah nicht die Spinnweben in den Ecken und den Staub auf den letzten Möbeln. Dieses Gemach war einmal mit Wärme und Lachen erfüllt gewesen, mit der Liebe ihrer Eltern. Der Gutmütigkeit ihres Vaters, der Energie ihrer Mutter und der festen Überzeugung eines kleinen Mädchens, dass ihm nichts geschehen konnte, solange diese beiden über es wachten.
Nun gab es niemanden mehr, der dies tat. Gratien hatte sich selbst und seine Ehre an Thilda verraten, und dieser Mann dort war auf dem besten Wege, dem Hause Locronan für immer den Todesstoß zu versetzen. Welch ein Segen, dass ihre Eltern dies nicht mehr erleben mussten. Zum ersten Male fand sie sich mit ihrem Tod versöhnt.
»In Locronan schlägt kein Herz mehr«, sagte sie heiser. »Wenn es stimmt, was Ihr gesagt habt, wenn Dame Thilda mit Menschenleben handelt, dann fliehen sogar die Gespenster diesen verfluchten Ort!«
Sie zwang sich, die Hand von der Kaminumrandung zu nehmen, und trat an die doppelflügelige, geschnitzte Pforte, deren Schloss und Klinke ein Meisterwerk ziselierter Schmiedekunst waren. Die geschnitzten Felder zeigten Szenen des alten Testamentes, und Ysobel verengte die Augen, als ihr Blick in diesem Moment ausgerechnet auf die Vertreibung aus dem Paradies fiel.
»Kommt!«, flüsterte sie. »Betet, dass keine von Thildas Damen das nächtliche Bedürfnis überkommt, den Abtritt aufzusuchen. Egal, ob sie uns für Schurken oder Gespenster hält, sie würde in jedem Falle ein Riesengezeter machen und die Burg aufwecken!«
Jos de Comper löschte die Kerzen, ehe er im Dunkeln an ihre Seite kam. Ohne sich etwas dabei zu denken, legte er seine Hand auf ihre Finger, welche die Klinke umfasst hielten. Ysobel erstarrte. Mit einem Schlag war sie sich seiner Gegenwart wieder überdeutlich bewusst, obwohl sie ihn nur fühlen konnte. Oder vielleicht gerade deswegen? Ihr Herz pochte so laut, dass sie fürchtete, er würde es hören. Schon der flüchtige Kontakt ließ sie erbeben. Gütiger Himmel, eben erst war sie einem grässlichen Schicksal entkommen. Es war schlicht nicht möglich, dass sie so fieberhaft nach einem Mann verlangte. Nein, nicht nach irgendeinem Mann, nach Jos!
Ihre unzusammenhängenden Gedanken zerstoben unter der Berührung seiner Lippen. Wie konnte er ihren Mund eigentlich finden, so abgrundtief finster, wie es in dieser Kammer war? Wie konnte er so sanft, so unendlich zärtlich und gleichzeitig so sinnverwirrend herausfordernd küssen? Küsse, die jede Vernunft und jeden Plan aufsogen und nur noch den Wunsch übrig ließen, dass sie nie enden mochten.
»Du schmeckst süßer als jede Frucht, habe ich dir das schon gesagt?« Seine Stimme setzte die begonnene Eroberung fort. Ein zusätzliches Streicheln, welches das verheerende Werk der Lippen noch übertraf. »Der köstlichste Nektar meines Lebens ...«
»Lasst mich!« Ysobel mobilisierte alle Kräfte, obgleich sie sich vorkam, als versinke sie unrettbar immer tiefer im Treibsand. »Könnt Ihr nicht wenigstens jetzt Vernunft walten lassen?«
Sie hatte recht, es war nicht der richtige Zeitpunkt. Jos de Comper wusste es, aber er konnte trotzdem nicht aufhören. Die Ereignisse hatten ihn gelehrt, dass man vom Guten Gebrauch machen musste, wenn es einem der Zufall in den Schoß warf. Ungenutzte Gelegenheiten kehrten gemeinhin nie wieder. Sie wurden zu lästigen und ärgerlichen Erinnerungen.
»Du hast selbst gesagt, dass wir bis zum Tagesanbruch warten müssen«, raunte er an ihrem Ohr und knabberte dann mit verheerender Wirkung daran. »Auch glaube ich mich daran zu erinnern, dass dieses Gemach verlassen ist und niemand sich darum kümmert, was die Gespenster des Hauses Locronan darin treiben ...«
»Aber ...« Ysobel brach ab.
Eine verhängnisvolle Schwäche machte sich in ihren Gliedern breit. Eine Mischung aus brennender Sehnsucht und kindlichem Vertrauen. Er hatte schon einmal das Versprechen gehalten, ihr nicht weh zu tun. Er hatte ihr bewiesen, dass sie mehr fühlen konnte als Entsetzen und Abscheu vor sich selbst. Er hatte ihr unendliche Wonnen geschenkt und sie in ein Paradies entführt, von dessen Vorhandensein sie keine Ahnung gehabt hatte, nach dem sie sich aber ununterbrochen sehnte. Ihr Widerspruch endete in einem Seufzer.
Jos de Comper fühlte den Wandel in ihrer Haltung. Der angespannte Körper drängte nicht mehr von ihm weg, er wurde weich und anschmiegsam. Mehr bedurfte es nicht, damit das
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