Ysobel – Das Herz aus Diamant
neigte dazu, mich auf diese Weise im Zaum zu halten.«
Ihr lockeres Geplauder löste den Bann des Schweigens zwischen ihnen, und Jos hatte keine Mühe, sich das neugierige kleine Mädchen vorzustellen, das mit wippenden Zöpfen seine Welt eroberte. Sollte er sie warnen, dass dies kein kindliches Wagnis, sondern gefährliche Wirklichkeit war? Dass sie dabei war, sich in ein Spiel zu verwickeln, das die Handschrift des größten Schurken trug, der dieses Land je heimgesucht hatte? Dass dies alles noch ärger ausgehen konnte, als die Abenteuer, die bereits hinter ihr lagen?
Er verzichtete darauf, sie von neuem zu erschrecken.
»Du sprichst in der Vergangenheit von deiner Mutter?«, fragte er statt dessen.
»Sie starb im selben Sommer wie mein Vater«, entgegnete Ysobel traurig. »Sie hatte ihn nach Quimper begleitet, und dort fielen beide der Pest zum Opfer. Es gibt nicht einmal ein Grab, an dem ich für sie beten könnte. Es gab damals so viele Tote, dass man sie einfach in große Gruben warf, Kalk darüber streute und sie der himmlischen Gerechtigkeit empfahl. Es hat lange gedauert, ehe wir überhaupt davon erfuhren ...«
Die Tage des Wartens vermischten sich in Ysobels Erinnerung mit dem Schmerz des Abschieds von Locronan. Gratien hatte damals in aller Eile Dame Thilda zur Frau genommen, in der Hoffnung, das Leben in Locronan würde für ihn und seine kleine Schwester trotz allem in gewohnter Weise weitergehen. Welch tragischer Irrtum.
»Deine Mutter war sicher eine kluge Frau.« Jos spürte den Schmerz, den Ysobel empfand, und er versuchte geschickt, gute Erinnerungen gegen die schlechten zu setzen. »Es scheint nicht ratsam für ein kleines Mädchen, in alten Verliesen und gefährlichen Gängen herumzuschlüpfen. Hat sie ebenfalls als Magd in der Burg gearbeitet?«
»Seid dankbar, dass ich ihr nicht folgte«, entgegnete Ysobel mit einem merklichen Unterton von Eigensinn und ohne seine direkte Frage zu beantworten. »Andernfalls würdet Ihr Euch in diesem Irrgarten verlaufen!«
»Der Himmel bewahre mich davor, dir jemals etwas verbieten zu müssen!«, murmelte Jos trocken und wurde mit einem leisen Lachen dafür belohnt.
Er konnte nicht ahnen, dass er fast wörtlich einen Stoßseufzer wiederholt hatte, der zum Standard-Repertoire von Ysobels Vater gehörte hatte. Er lauschte dem melodiösen Ton nach, und auch Ysobel stutzte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zum letzten Male gelacht hatte.
Wie seltsam, dass der Drang dazu sie ausgerechnet in diesem eigentlich höchst unpassenden Moment und an der Seite dieses Mannes überkam. Sie musste vorsichtiger sein. Ihre Ziele unterschieden sich zu sehr voneinander, und er besaß ohnehin bereits zu viel Macht über sie.
»Die Kinderstreiche liegen hinter mir«, erwiderte sie. »Vorsicht, dieser Durchgang liegt unter den Säulen, welche die große Halle stützen, Ihr müsst Euch bücken!«
Jos de Comper unterdrückte einen Fluch, weil er dem Rat zu spät folgte und mit der Stirn an einer scharfen Mauerkante entlangschrammte. Dieses Unternehmen verlief nicht in seinem Sinne. Die Art, wie sie ihm geradezu gnädig in letzter Minute ihre Anweisungen zuwarf, begann ihn langsam zu verdrießen. Er rieb sich die Stirn und spürte die Spuren einer kleinen Wunde, in deren Rissen sich Blut sammelte. Es sickerte davon wie seine Selbstachtung.
Für einen Moment ließ er in seiner Konzentration nach und prallte gegen Ysobels Gestalt. Er hatte nicht gemerkt, dass sie erneut stehen geblieben war. »Zum Henker, was ist nun schon wieder los?«
»Wenn Ihr noch ein wenig lauter schreit, dann können wir diese Treppe einfach hinaufspazieren und uns der geschäftstüchtigen Dame präsentieren, die Ihr entlarven wollt«, zischte sie ungehalten.
Jos verzog das Gesicht, was sie glücklicherweise im Dunkel nicht erkennen konnte.
»Folgt mir! Keinen Laut, was immer auch passiert!«, hauchte Ysobel und ehe er eine Bewegung machen konnte legte sie die Hand warnend auf seinen Arm. »Lasst diesen Dolch stecken. Habt Ihr vergessen, dass ihr Jos der Fischer seid? Ein Fischer schleicht nicht mit erhobener Waffe durch die Gänge der Burg. Er läuft höchstens wie betäubt hinter einer leichtfertigen Person her, die sich in seine meerblauen Augen verguckt hat und ein einsames Plätzchen sucht, an dem sie mit ihm allein sein kann.«
Ehe er sortieren konnte, was in dieser hastigen kleinen Rede Spott oder Ernst war, wandelte sich der mahnende Griff ihrer Finger in ein merkliches Ziehen
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