Ysobel – Das Herz aus Diamant
zischte, und der Gestank von heißem Wein und feuchter Asche legte sich ätzend auf seine Lungen. Gratien de Locronan hustete und taumelte zu seinem Alkoven. Er machte sich nicht die Mühe, die Kleider abzulegen oder das Fenster zu schließen. Er war dermaßen erschöpft, dass er schon schlief, ehe sein Kopf die Kissen berührte.
Jos verließ sich lieber auf seine Sinne als auf das schwache Laternenlicht. Seine Ohren lauschten auf den leisen, flinken Schritt Ysobels, er sog ihren unverwechselbaren Duft ein. Ein Duft nach frischem Moos und Veilchen. Sogar im Dunkeln blieb Ysobel für ihn unverwechselbar. Wie von einem Magneten angezogen, folgte er ihr durch die Gänge, zutiefst davon überzeugt, dass es ihm bestimmt gewesen war, ausgerechnet ihr zu begegnen.
Auch Ysobel war sich der Gegenwart des Ritters auf besondere Weise bewusst. Was empfand sie für ihn? Dankbarkeit, weil er ihr gezeigt hatte, dass es zwischen Mann und Frau nicht nur Terror und Gewalt gab? Sympathie, weil er ihr schmeichelte und sie mit seinen Zärtlichkeiten um den Verstand brachte? Bewunderung, weil er der schönste Mann war, den sie je gesehen hatte? Himmel, welch eine Liste von Vorzügen. Sollte sie sich nicht endlich daranmachen, seine Fehler zu suchen? Fehler? Welche Fehler eigentlich?
Heilige Anna, dieser Mann war drauf und dran, ihren eigenen Bruder und seine Gemahlin zu vernichten. Was trieb sie dazu, ihm dabei auch noch zu helfen? Ihre Liebe zu diesem Stück Land und den Menschen, die dort lebten? Ihr Gefühl für Anständigkeit und Gerechtigkeit? Der schlichte, menschliche Wunsch, Dame Thilda all die Boshaftigkeiten und Kränkungen heimzuzahlen, die sie ihr angetan hatte? Oder der verzweifelte Versuch, wenigstens Gratien zu retten?
Immerhin besaß sie das Kreuz von Ys. Wenn Jean de Montfort davon erfuhr, würde er es um jeden Preis besitzen wollen. Dann wurde Mutter Elissas Vermächtnis zum Handelsgut das vielleicht die Ehre der Locronans wiederherstellen und Gratien trotz seiner vielen Fehler schützen konnte. Im Gegensatz zu seiner Gemahlin war er schwach, aber nicht böse. Sie wagte nicht, darüber nachzusinnen, welche Strafe Dame Thilda angemessen war.
Sie trat aus dem Gang in eine unterirdische Höhle, in der es überwältigend nach Tang, Seegras und Meerwasser roch. Sie hielt kurz inne und warf einen Blick über die Schulter. »Haltet Euch direkt hinter mir, mit der rechten Hand findet Ihr eine Rinne im Stein, die Euch auch ohne Licht den Weg weist. Der Weg ist hier nur ein schmaler Absatz am Fels, was Ihr dort unten hört, ist das Meer ...«
Das Gurgeln und Plätschern, das in der Dunkelheit von den Steinwänden widerhallte, bestätigte ihre Worte, und Jos de Comper kämpfte trotz seines unbestrittenen Mutes mit einem Anflug von Panik. War er nicht ein Narr, diesem Mädchen zu vertrauen? Was, wenn sie ihn ins Leere laufen ließ? Wenn sie zu den Verbrechern in der Burg gehörte? Niemand würde je eine Spur von ihm finden, wenn er in einem Tümpel wie diesem endete. Welchen Zauber warf sie mit ihren goldenen Augen über ihn, dass er ihr nachlief wie ein dressiertes Schoßhündchen?
Ysobel fühlte seine Gedanken, als hätte er sie laut ausgesprochen. »Die Flut zieht sich zurück, Ihr würdet Euch nasse Schuhe und einen Schnupfen holen, aber der Sturz wäre nicht lebensgefährlich. Trotzdem ist es besser, wenn Ihr auf Eure Schritte achtet ...«
Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als das Plätschern bereits leiser wurde. Er lief im Dunkeln gegen ihre ausgestreckte Hand, denn sie war erneut stehen geblieben. »Hier ist die erste Stufe. Am besten zählt Ihr mit, es sind genau vierundsechzig. Ihr werdet schließlich alleine zurückgehen müssen, und deswegen solltet Ihr Euch den Weg zum Strand genau einprägen. Die Laterne lasst Ihr ebenfalls besser hier ...«
Jos de Comper schwieg und zählte. Es kam ihm in diesem Augenblick nicht einmal seltsam vor, dass er ihre Befehle wie ein gehorsamer Krieger befolgte. Wie versprochen, endeten die Stufen bei vierundsechzig, und er fühlte Steinplatten unter seinen Sohlen.
»Wo sind wir?«
»In den unterirdischen Gewölben der Burg«, entgegnete Ysobel mit gedämpfter Stimme. »Man sagt, sie sind so alt wie die Felsen an der Bucht. Als Kind glaubte ich lange Zeit, dass hier unten die Pforten der Hölle versteckt seien. Später kam es mir so vor, als habe mir meine Mutter diesen Einfall in den Kopf gepflanzt, um mich davon abzuhalten, auf eigene Faust auf Abenteuer auszugehen. Sie
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