Ysobel – Das Herz aus Diamant
Stuhles und trat an das Fenster. Er schwankte, und seine Finger hatten Mühe, den ziselierten Schieber zu öffnen, der die beiden Flügel mit dem kostbaren Glas arretierte. Endlich gelang es ihm, die Verriegelung zu lösen. Frische, kühle Nachtluft drang mit einem eisigen Schwall in das überheizte, stickige Zimmer und strich über seine schmerzende Stirn.
Er hatte jedes Gefühl für Zeit verloren, aber die tiefe Finsternis draußen sagte ihm, dass der Sonnenaufgang noch weit entfernt sein musste. Vielleicht ging die Sonne über Locronan ja ohnehin nicht mehr auf. Es hätte ihn nicht verwundert, wenn der Himmel dieser Burg und den Menschen das Weiterleben verweigerte. Verdient hätten sie es.
Der stürmische Wind, der durch das Fenster pfiff und seine Haare zerwühlte, schenkte auch seinem weinvernebelten Gehirn einen eigenartigen Moment der Klarheit. Angewidert betrachtete er seine bebenden Hände, ehe er seinen Blick in die nächtliche Dunkelheit hinauswandern ließ. Er konnte nicht einmal mehr die Zinnen der väterlichen Burg erkennen, geschweige denn das Meer oder den Himmel. Nur der Wind brachte den Duft von Salz, von Tang und einen kaum merklichen Hauch von Frühling.
Irgend etwas war schrecklich falsch gelaufen in den vergangenen Jahren. Er versuchte sich daran zu erinnern, wann genau es begonnen hatte. Nach dem Tod seiner Eltern? Nachdem er Mathilda zur Gemahlin genommen hatte? Nach Ysobels Abreise in dieses weitentfernte, einsame Kloster?
Hätte er nicht verhindern müssen, dass seine kleine Schwester fortgeschickt wurde? Thildas Argumente hatten so vernünftig geklungen, und das Mädchen war schon immer ein wenig eigenartig gewesen. Ungehorsam, aufbegehrend und ohne jede Sanftmut. Ihr Charakter war stark wie der eines Mannes. Er hatte Thilda geglaubt, dass er Ysobel einen Gefallen tat, wenn er sie nach Sainte Anne gab. Sicher würde sie irgendwann Äbtissin werden, genau das richtige Amt für eine Frau mit solchen Anlagen.
Aber die blasse, stumme, verzweifelte junge Frau, die im vergangenen Herbst Zuflucht in ihrer Heimat gesucht hatte, war nur noch ein Schatten jener trotzigen Ysobel gewesen. Ein demütiges Geschöpf, das offensichtlich nur im Gebet und in der Buße seinen Frieden fand. Das hatte zumindest Thilda behauptet, und bislang hatte er es nie bezweifelt. Man musste seine Schwester ja nur ansehen. Niemand zwang sie schließlich zu diesen niedrigen Arbeiten.
Der Gedanke an Ysobel trieb ihn vom Fenster zum Tisch, wo das Tablett mit den Weinkaraffen stand. Silberne Krüge bis zum Rand mit schwerem Malvasier gefüllt. Wieso waren es eigentlich so viele? Ysobel verschwand aus seinen Gedanken und er betrachtete abgelenkt den Wein. Normalerweise zeichnete sich Thilda nicht durch übertriebene Großzügigkeit aus. Im Gegenteil, solange es nicht das eigene, sorgsam gehätschelte Wohlbefinden betraf, war sie sogar von ausgesprochenem Geiz.
Zudem missfiel es ihr, wenn er sich betrank. Aber wenn er diese Menge in sich hineinschüttete, würde er nicht nur berauscht sein, sondern umfallen wie ein Stein. Und danach? Der Schädel würde ihm stundenlang schmerzen und das Tageslicht mit grellen Pfeilen seine Augen peinigen. Sein Magen würde rebellieren, seine Hände würden mehr zittern denn je. Keine sehr erfreulichen Aussichten für den nächsten Morgen. Außerdem war da eine eigenartig lästige Erinnerung irgendwo in seinem Kopf.
Er hatte mit Thilda gestritten und ihr befohlen, künftig keine Geschäfte mehr mit diesem Schurken St. Cado zu machen. Vielleicht war es ganz ratsam, wenn er ihr trotz ihrer lammfrommen Versicherung, ihm zu gehorchen, ein wenig auf die Finger sah. In letzter Zeit fand er sich nicht mehr im Stande, alles zu glauben, was sie ihm sagte.
Die glanzvolle Erscheinung seiner edlen Gemahlin hatte düstere Schatten bekommen. Sie war nicht mehr die liebenswürdige Braut, die ihn anbetete. Mit jedem Monat, jedem Jahr, in dem sie umsonst darauf wartete, dass sie endlich schwanger wurde, änderte sich ihr Verhalten. Je kühler die Luft im Gemach wurde, um so folgerichtiger fügten sich seine Gedanken aneinander.
Arme Thilda, er musste sie vor sich selbst beschützen! Ja, er würde sie zur Vernunft bringen. Ein neues Leben mit ihr beginnen! Hatte sie nicht einen ersten Anfang dazu bereits gemacht, als sie seine Anweisungen in Bezug auf Ysobel ohne Widerspruch hinnahm?
In einem plötzlichen Entschluss nahm er die Weinkaraffen und löschte damit das prasselnde Feuer im Kamin. Der Malvasier
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