Ysobel – Das Herz aus Diamant
auszuwählen und einen Baumeister zu besorgen, der die Wälle und Befestigungen überprüft. Er wird Euch morgen den Hauptmann der Männer vorstellen und persönlich darüber wachen, dass all die Dinge erledigt werden, die in der letzten Zeit bezüglich der Verteidigung ein wenig vernachlässigt wurden. Und was die Dörfer in der Bucht betrifft, so sollten wir vielleicht den Bau eines richtigen Hafens in Betracht ziehen und ...«
Ysobel ertappte sich dabei, dass sie den Ausführungen nicht die erforderliche Aufmerksamkeit schenkte. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, die Herrin dieser Burg zu sein, und die Verwirrtheit ihres betrübten Herzens ließ nicht zu, dass sie sich mit etwas anderem als mit Jos’ Verschwinden beschäftigte. Warum war er davongeritten, ohne das kleinste Wort für sie? Was hatte sie ihm getan? Waren all seine Liebesworte nur Lügen gewesen?
An ihrem Ohr glitten die Aufzählungen und Berichte vorbei, aber eines erregte letztendlich doch ihre flüchtige Aufmerksamkeit.
»Die Truhen von Locronan sind leer, Euer Gnaden!«, warf sie bedrückt ein. »Ich weiß nicht, wie ich all diese Handwerker, Bogenschützen, Soldaten und Bediensteten ernähren und kleiden oder ihnen den zustehenden Lohn bezahlen soll? Wisst Ihr Kaufleute, die dieses Übermaß an Wandbehängen, Silberzeug und Seidenstoffen zurückkaufen würden, das dieses Haus füllt?«
»Dame Ysobel!« Der Herzog griff nach ihren Händen und drückte die schmalen Finger, die nur langsam die Spuren harter Arbeit verloren. »Manchmal habe ich den vermaledeiten Eindruck, dass Ihr Eurem Lehnsherrn nicht zuhört, kann das sein?«
Er lachte, als er die feine Röte auf ihren Wangen entdeckte. Er ahnte, worum sie sich sorgte.
»Nein, ich zürne Euch nicht. Mir ist klar, dass die Ereignisse ihren Tribut von Euch fordern. Aber die Tatsache, dass ich Euch zur Herrin dieses Lehens gemacht habe, bedeutet auch, dass ich Euch Beistand leiste, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Habt Ihr überhaupt eine Ahnung, welchen Schatz Ihr mir mit dem Kreuz von Ys überreicht habt?«
Ysobel schüttelte nur den Kopf. Sie hatte so gehandelt, wie es ihr Herz befohlen hatte, und das rechnete sich nicht in Besitz und Kapital.
»Der Diamant allein kann Locronan in neuem Reichtum erstehen lassen!«, sagte der Herzog beschwörend. »Ihr seid jetzt eine Nobeldame von beträchtlichem Besitz. Lasst Euch Kleider aus den Seidenstoffen nähen und macht diese düstere Festung mit den Wandbehängen und dem Silberzeug zu einem Heim der Schönheit und der Freude. In unserem Land herrscht Frieden, und nun brauchen wir Herrinnen, die sich um Kunst und Minne kümmern, mehr als die Kraft der Krieger!«
Das Wort Minne erstickte wie plötzlicher Frost Ysobels anfängliche Erleichterung. Ihr Liebster war davongeritten. Was nützten ihr all der Reichtum und all die Ehren, wenn sie nicht gut genug für Jos de Comper war? Sie mobilisierte all ihren Stolz, um ihre Verzweiflung zu verbergen. Ihr Dank an Jean de Montfort war vollendet formuliert und wurde in höchster Anmut vorgetragen. Er entließ sie voller Zufriedenheit und ohne jede Ahnung davon, dass sie in der prächtigen Kemenate am Fenster stand und bittere Tränen der Verzweiflung vergoss.
Jeanne war die einzige Zeugin dieses Leides. Jeanne, die trotz ihrer fünfzehn Jahre die Fähigkeiten eines Generals entwickelte. Seit sie es wagte, den Mund aufzumachen, konnte nichts sie mehr bremsen, weder Ysobels vorsichtige Bemühungen, ihr ein wenig gutes Benehmen beizubringen, noch die energische Hand von Dame Anne, die kurzerhand zur neuen Haushofmeisterin ernannt worden war.
Die Witwe des Fischers Kennec, deren Sohn eine nicht unbeträchtliche Rolle bei der Befreiung von Locronan gespielt hatte, war zu Ysobels Verblüffung bei ihr erschienen, um sich zu entschuldigen.
»Ich konnte schließlich nicht wissen, dass Ihr und er so hoch über uns stehen«, hatte sie in einer Mischung aus Beschämung und natürlichem Stolz verkündet. »In diesem Fall gehört es sich, dass ich die Dinge geraderücke. Ich wär’ ihm gern zu Diensten gewesen, dem Fischer Jos. Ein prächtiges Mannsbild, das einer Frau schon gefallen kann! Aber um ehrlich zu sein, mehr als seine Mahlzeiten und dass ich seine Wäsche wasche, wollt’ er nicht von mir. Es wär’ mir nicht recht, wenn er erfährt, dass ich mir was eingebildet habe. Und das hier, das gehört scheint’s Euch ...«
Ysobel hütete die geschnitzte Möwe seitdem wie einen Schatz. Sie hatte die
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