Ysobel – Das Herz aus Diamant
keinen Anspruch darauf. Das beste ist, wenn Ihr diesen Ort der Schande dem Erdboden gleichmacht und dem Vergessen übergebt. Im besten Fall wird es irgendwann zur schrecklichen Legende, von der niemand mehr sagen kann, ob es sich tatsächlich einmal so zugetragen hat oder nicht.«
Ihre heftigen Atemzüge und das unruhige Flattern ihrer Wimpern verrieten, wie sehr sie dennoch unter dem Ruin ihrer einstmals so stolzen Familie litt. Der Medikus schüttelte mahnend den Kopf. »Gespräche dieser Art sind noch zu anstrengend für die Dame! Ihr müsst ruhen, Demoiselle! Ich werde Euch einen Schlaftrunk zubereiten, und dann wird man Euch in Frieden lassen.«
So kam es, dass Ysobel mit geschlossenen Augen und sich regelmäßig hebender und senkender Brust in den Kissen lag, als Jos de Comper in die Kammer taumelte und mit einem erstickten Laut neben dem Alkoven in die Knie sank. Innerhalb weniger Stunden ihren Tod zu befürchten, mit anzusehen, wie sie stürzte, ihren Mörder zu töten, sich besinnungslos betrinken zu wollen und mittendrin zu erfahren, dass sie trotz allem noch lebte und in Sicherheit war, hatte seine Nerven völlig zerrüttet.
Ihre Rechte, deren Finger noch die Striemen der Goldkette trugen, die sie Cocherel vom Hals gerissen hatte, ruhte wie ein zarter müder Vogel neben ihrem Körper auf der Decke. Jos legte die Wange darauf und spürte ihre Wärme. Er wollte nur hier knien und sie spüren. Nicht mehr.
»Man sagt, sie wird die neue Herrin dieser Festung sein«, wisperte Jeanne, die ihn heimlich in diese Kammer geführt hatte, voller Stolz. Sie trug noch immer die schmutzigen Lumpen ihres Spülmägdelebens, aber sie sprühte vor Stolz über die Rettung ihrer Herrin. Sogar der Herzog hatte sich überschwänglich bei ihr bedankt und sie gebeten, sich um Ysobels Wohlergehen zu kümmern. »Sie hielt das Kreuz von Ys noch umklammert, als ich sie fand! Den Stern von Armor hättet Ihr sehen sollen! Fast so groß wie ein Hühnerei und so klar wie das erste Licht des Tages. Noch nie hab’ ich eine solche Pracht aus der Nähe anschauen dürfen! Er wird uns Glück bringen und sie zu einer mächtigen und angesehenen Dame machen!«
Das leise Geplapper des glücklichen jungen Mädchens klang wie das muntere Plätschern einer Quelle. Nicht laut genug, um Ysobel zu stören, aber doch deutlich genug, um Jos de Comper aus seinen närrischen Träumen zu reißen. Jeanne hatte natürlich recht. Der Herzog würde alles tun, damit Ysobel in Zukunft den Rang einnahm, der ihr gebührte. Nicht nur, weil sie ihm das Kreuz von Ys gebracht hatte, auch weil er ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Er gehörte nicht zu den Herrschern, die gefühllos über das Leben ihrer Vasallen hinweggingen. Erst recht nicht, wenn es sich dabei um eine junge Frau von seltener Schönheit und edelster Herkunft handelte.
Er hob den Kopf und starrte mit brennenden Augen in das geliebte Gesicht. Sogar mit den bläulichen Schatten unter den Augen und der rötlichen Schramme auf der Stirn blieb ihre Schönheit unbeeinflusst. Es gab keine Frau auf Erden, die ihr glich. Keine, die er mehr liebte, die er leidenschaftlicher begehrte und die er weniger besitzen konnte.
Mit einem verzweifelten Stöhnen erhob er sich. Es war vorbei. Es hatte keinen Sinn, die Trennung noch länger hinauszuzögern. Der Schmerz würde immer derselbe bleiben.
»Wohin geht Ihr?«, fragte Jeanne verblüfft. »Wollt Ihr nicht bleiben? Sie wird sich freuen, wenn sie erwacht und Euch an ihrer Seite findet. Sie mag Euch, und Ihr habt ihr schließlich das Leben gerettet!«
Die unverfälschte Naivität, mit der Jeanne die Gefühle ihrer Herrin interpretierte, entlockte Jos eine bittere Grimasse. »Wenn jemand deiner Herrin bedingungslos gedient hat, dann warst du es, kleine Jeanne!«, erwiderte er förmlich. »Ich war nicht einmal schnell genug, um ihren Sturz über die Zinnen zu verhindern. Es ist besser, wenn sie mich vergisst!«
Er beugte sich über die Schlafende und küsste ihre Stirn, dann richtete er sich auf und verließ die Kemenate. Jeanne hätte ihn am liebsten an Ysobels Bett gefesselt. Sie wusste, seine Entscheidung war falsch und würde ihrer Herrin Kummer bereiten! Doch, wie sollte sie ihn halten? Offensichtlich gab es auch für die persönliche Dienerin einer Edeldame Grenzen ...
Es war Dame Volbertes Pech, dass sie den, gut aussehenden, finster dreinblickenden Ritter an der Seite des Herzogs für so eine Art Leibwache, aber nicht für eine ernsthafte
Weitere Kostenlose Bücher