Zähl nicht die Stunden
beantworten. Glauben Sie mir , das Ganze ist vollkommen unkompliziert. Zum Abendessen sind Sie wieder
zu Hause. Ich werde meine Sekretärin anweisen, Anfang nächster Woche einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren.«
»Nächste Woche?«
»Ich werde mir den Fall am Wochenende durch den Kopf gehen
lassen und entscheiden , wie am besten weiter vorzugehen ist« , sagte Jake , mit einem Fuß bereits aus der Tür. »Mr. Becker wird sich hervorragend um Sie kümmern.«
Erst als Jake allein im Aufzug stand , wurde ihm das volle Ausmaß dessen , was er gerade getan hatte , bewusst. Er warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. Als der Fahrstuhl in der Lobby hielt , lachte er immer noch.
22
»Und wie ist es mit Rosemary gelaufen?« , fragte Mattie, drehte sich um und sah Kim erwartungsvoll an.
Kim zuckte mit den Achseln, drückte ihre Nase ans Fenster und
spürte es kalt an ihrer Wange, während ihr warmer Atem die Scheibe beschlug. Mit ihrem Zeigefinger malte sie die Strichfigur einer Frau mit krausem Haar auf das Glas. »Gut«, sagte Kim und wischte das Bild mit dem Ärmel ihres Mantels sofort wieder weg.
»Sie macht einen sehr netten Eindruck.«
»Ja, kann sein.« Kim schloss die Augen und wartete, bis sie hörte, dass ihre Mutter sich wieder wegdrehte, bevor sie sie wieder öffnete. Sie ließ sich in die weichen Ledersitze des Wagens ihres Vaters zurückfallen und starrte auf die hartnäckigen Schneehaufen am Straßenrand. Wollte der Winter denn gar nicht mehr aufhören? Anfang März, und der Schnee lag noch immer fast dreißig Zentimeter hoch. Je schneller die Zeit verging, desto weniger blieb natürlich. Zumindest für ihre Mutter. Kim beugte sich vor und wollte ihre Hand auf die Schulter ihrer Mutter legen. Doch die tuschelte vertraulich mit ihrem Vater, sodass Kim ihre Hand rasch wieder zurückzog.
»Ja, mein Schatz?«, fragte ihre Mutter , als hätte sie Augen im Hinterkopf. »Wolltest du was sagen?«
Kim brummte und beobachtete , wie ein Sportwagen sie rechts überholte. Ihrem Vater war es irgendwie gelungen, den Autohändler
davon zu überzeugen, die rote Corvette zurückzunehmen, die ihre
Mutter sich gekauft hatte, als sie von ihrer Krankheit erfahren hatte.
Warum sollte sie das überraschen?, fragte Kim sich, während sie
abwesend die roten Autos zählte, die auf der Straße unterwegs waren, wie sie es als kleines Kind immer getan hatte. Wenn ihr Vater scheinbar vernünftige Menschen davon überzeugen konnte , Mörder laufen zu lassen , war es ihm bestimmt ein Leichtes, Autohändler zu überreden , rote Corvettes zurückzunehmen. Schließlich war er der Staranwalt Jake Hart , so gut wie heilig gesprochen von der aktuellen Ausgabe des Chi c ag o-Magazins. Er könnte jeden von allem überzeugen.
»Hat in der Schule irgendwer was wegen des Artikels über deinen
Vater gesagt?«, fragte Mattie, als wäre sie in jeden Gedanken ihrer
Tochter eingeweiht.
»Nein«, sagte Kim, obwohl ihn tatsächlich mehrere Lehrer erwähnt
hatten.
»Wie fandest du ihn, Kimmy?«, fragte ihr Vater.
»Ich hab ihn nicht gelesen« , log Kim. In Wahrheit hatte sie ihn so oft gelesen, dass sie ihn auswendig hätte vortragen können.
»Ich fand ihn überaus schmeichelhaft«, sagte Mattie, und Kim hörte
ihren Vater lachen.
»Was ist daran so komisch?«, fragte ihre Mutter.
»Dieselben Worte, die ich heute Nachmittag verwendet habe«, sagte
Jake, und Kim wand sich auf ihrem Sitz.
Auf einmal passten sie so verdammt gut zueinander, dachte sie. Sie
stritten sich nie mehr, schrieen nie, hoben nicht einmal mehr die Stimme.
Seit ihr Vater ins Schlafzimmer ihrer Mutter zurückgekehrt war, waren sie zu Mr. und Mrs. Seelenverwandt mutiert. Manchmal wachte sie
mitten in der Nacht auf, lag im Bett und wartete auf das einst
beunruhigende Geräusch ihres angespannten Flüsterns, mit dem sie
aufgewachsen war, das Zeichen für sie, aus dem Bett zu springen und
zur Verteidigung ihrer Mutter zu eilen. Doch das einzige Flüstern, das Kim in letzter Zeit gehört hatte, wurde für gewöhnlich von gedämpften Kicheranfällen gefolgt, und einmal, als sie auf Zehenspitzen zum
Schlafzimmer ihrer Eltern geschlichen war , um sich zu vergewissern , dass alles in Ordnung war, hatte sie gesehen, wie sich der Körper ihres Vaters unter der Decke gewunden hatte, als er sich auf ihre Mutter legte, und sie hatte mit beträchtlichem Ekel erkannt , dass ihre Eltern miteinander schliefen.
So ging es dieser Tage zu im Haus der Harts: Ihre Eltern
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