Zähl nicht die Stunden
den Karton und nahm einen anderen,
der die Augen noch halb geschlossen hatte.
»Was für Hunde sind das?«, fragte Mattie. Kim fiel auf, dass Mattie jeden direkten Augenkontakt mit ihrer Mutter sorgfältig mied.
»Pekipus«, verkündete Grandma Viv, straffte ihre ohnehin geraden
Schultern und tätschelte ihr kurzes , grau meliertes Haar. »Halb Pudel, halb Pekinese , aber intelligenter als beide Rassen zusammen.«
»Ich will diesen hier« , sagte Kim und übersäte das weiße Fell des Welpen mit Küssen, bis der Kleine den Kopf hob und Kims Kinn
abschleckte.
»Pass auf, dass er deine Lippen nicht ableckt«, mahnte Mattie.
Doch Kim beachtete ihre Mutter gar nicht, sondern ließ sich von dem
Welpen weiter den Mund ablecken und spürte, wie seine feuchte Zunge
zwischen ihre Lippen drängte.
»Kim...«, sagte ihr Vater.
»Himmel Herrgott, ihr zwei, das ist schon in Ordnung. Ihre Münder
sind sauberer als unsere«, meinte Grandma Viv und wischte ihre
Befürchtungen mit einem ungeduldigen Winken beiseite. »Wie willst du ihn nennen, Kimmy?« Kims Blick schoss aus Angst, zu lange irgendwo
zu verweilen, zwischen ihrer Großmutter, ihrem Vater und ihrer Mutter hin und her. Warum? Ihre Mutter hatte Hunde immer gehasst. Sie war
sogar so weit gegangen, eine Allergie vorzutäuschen, als Kim eines
Sommers einen streunenden Hund vom See mit nach Hause gebracht
hatte, und hatte darauf bestanden, ihn zu Grandma Viv zu bringen. Kim hatte ihn jede Woche besucht, aber das war nicht dasselbe, wie einen Hund bei sich zu Hause zu haben, einen, der einem von Zimmer zu
Zimmer folgte und sich im Bett an die Füße kuschelte. Warum der
plötzliche Sinneswandel? Warum gerade jetzt, wo ein noch nicht
erzogener Welpe das Letzte war, was ihre Mutter gebrauchen konnte? Es war die Bestätigung, begriff Kim in diesem Moment und kämpfte gegen
die plötzliche Kurzatmigkeit an. Ihre Mutter starb.
»Was denkst du, was ein guter Name wäre, Mama«, sagte Kim mit
einem dicken Kloß im Hals.
»Er ist dein Baby«, sagte Mattie. »Such du einen aus.«
»Das ist aber eine schwierige Entscheidung.«
»Ja, das ist es«, stimmte ihre Mutter ihr zu. »Wie wäre es mit George?«
»George?« , fragten Mattie und Jake im Chor.
»Wunderbar«, sagte Grandma Viv. »George ist der perfekteName für ihn.«
»George und Martha«, sagte Kim und lächelte ihre Mutter an. »Das
passt gut zusammen.«
»Ich habe nie verstanden, warum deine Mutter den Namen Martha so
gehasst hat«, grummelte Grandma Viv. »Ich fand ihn immer
wunderschön. Und man hat auch nicht davon gehört, dass sich Martha
Stewart in Mattie umbenannt hat, oder? Wer möchte eine Tasse Tee?«, fragte sie im selben Atemzug.
»Tee klingt gut«, sagte Jake.
»Tee wäre nett«, stimmte Mattie zu.
Kim beobachtete , wie ihre Mutter aus dem Augenwinkel Grandma Viv beobachtete, und versuchte, ihre Großmutter mit den Augen ihrer Mutter zu sehen. Sie sahen sich nicht ähnlich. Ihre Großmutter war
kleiner und untersetzter als ihre Mutter, und ihr kurzes dunkelbraunes Haar war lockig und von grauen Strähnen durchzogen. Ihre
Gesichtszüge waren gröber als die ihres einzigen Kindes, die Nase breiter und flacher, das Kinn rundlicher, die Augen grün im Gegensatz zu den blauen Augen ihrer Tochter. Mattie hatte immer behauptet, sie würde genauso aussehen wie ihr Vater, obwohl es keine Bilder gab, die diesen Anspruch belegen könnten. Ihre Großmutter trug im Gegensatz zu ihrer Mutter niemals Make-up, aber ihre Wangen glühten auch so dunkelrot,
wenn sie wütend oder aufgeregt war, Flecken, die Matties perfekten Teint selten verunzierten. Trotzdem konnte Kim Spuren ihrer
Großmutter in den stolz gestreckten Schultern ihrer Mutter erkennen, in der Art, wie beide Frauen ihren Kopf hielten und sich auf ihre Hände verließen, wenn es darum ging, Gedanken auszudrücken, die zu
schwierig waren, um nur ausgesprochen zu werden.
»Was ist zwischen dir und Grandma Viv passiert?«, hatte Kim immer
wieder gefragt. »Nichts ist passiert«, pflegte ihre Mutter zu antworten.
»Wie kommt es dann, dass du sie nie besuchst? Warum kommt sie nie
zu uns zum Essen?«
»Das ist eine lange Geschichte, Kim. Und deine Fragen sind nicht
einfach zu beantworten. Warum fragst du deine Großmutter nicht?«
»Das habe ich getan.«
»Und?«
»Sie hat gesagt, ich soll dich fragen.«
In den Augen ihrer Mutter lag ein seltsamer Ausdruck , dachte Kim jetzt , als wäre sie in das falsche Haus gestolpert und
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