Zähl nicht die Stunden
überraschte sie beide. »Also bitte behandele mich auch nicht so« , fuhr sie in normalem Tonfall fort. »Mein Gott , Mattie. Es tut mir Leid. Ich wollte nicht –«
»Ich weiß«, versicherte sie ihm eilig. »Ich bin diejenige , der es Leid tun sollte. Ich hatte kein Recht , dich so anzufauchen.«
»Du hattest alles Recht der Welt.«
»Ich habe heute einfach einen schlechten Tag.«
»Was kann ich tun?« , fragte er hilflos.
»Du kannst ins Centre George Pompidou gehen und dich amüsieren,
das kannst du tun.«
»Und das ist das, was du wirklich willst?«
»Das ist das, was ich wirklich will.«
Jake nickte und stand auf. »Je schneller ich aufbreche, desto schneller bin ich wieder hier, nehme ich an.«
Mattie blickte lächelnd zu ihm hoch. »Hetz dich nicht. Ich gehe
nirgendwohin. Und jetzt lauf. Verschwinde.«
Er beugte sich zu ihr herab und küsste sie, und sie spürte seine
Lippen noch auf ihren, lange nachdem er den Raum verlassen hatte.
Mattie blieb eine Weile alleine sitzen und beobachtete die anderen
Frühstücksgäste: ein junges Paar an einem Ecktisch, das sich leise auf Spanisch stritt; zwei ältere Frauen , die sich aufgeregt auf Deutsch unterhielten; ein amerikanisches Paar , das erfolglos versuchte, seine beiden kleinen Söhne am Aufstehen zu hindern. Was war mit der Frau
geschehen , die sie auf dem Hof getroffen hatte, fragte sie sich. Cynthia irgendwas. Broome. Cynthia Broome. Ja, das war’s. Sie hatte sie seit jenem ersten Tag nicht mehr gesehen.
Mattie stand mühsam auf und stellte mit einem Blick auf die anderen
Tische lächelnd fest, dass sämtliche Croissants aus den Brotkörben verschwunden , die meisten harten Brötchen hingegen unangerührt geblieben waren. Wer hatte auch schon die Kraft, die verdammten
Dinger zu kauen? Sie jedenfalls ganz bestimmt nicht, dachte sie, als plötzlich einer der amerikanischen Jungen von seinem Stuhl aufsprang, losrannte und sie anrempelte. Mattie spürte, wie ihre Knie nachgaben.
Sie stolperte, klammerte sich an die Lehne eines Stuhles in der Nähe und schaffte es durch schiere Willenskraft, auf den Beinen zu bleiben.
»Wirst du dich wohl hinsetzen!«, fuhr die Mutter den Kleinen an,
zerrte den strubbeligen Jungen gewaltsam wieder auf seinen Stuhl und schob diesen so dicht wie möglich an den Tisch. »Es tut mir schrecklich Leid«, sagte sie zu Mattie, als die an ihr vorbei in die Lobby ging, und ihr New-England-Akzent verhallte im Echo des Regens von draußen.
Auf dem Weg zu dem winzigen Aufzug fiel Matties Blick auf Chloe
Dorleac, die ihr, herausgeputzt mit dunkelvioletter Seidenbluse und
burgunderrotem Lippenstift, kühl zunickte. Die Drachenfrau, dachte sie glucksend, machte auf dem Absatz kehrt und steuerte die Rezeption an.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Chloe Dorleac, ohne aufzublicken.
»Ich wollte mich nach einem Ihrer Gäste erkundigen« , sagte Mattie und fuhr , als das keine Nachfrage provozierte , fort: »Cynthia Broome.
Sie ist Amerikanerin.«
»Cynthia Broome?« , wiederholte die Drachenfrau. »Der Name kommt mir nicht bekannt vor.«
»Sie war schon hier , als wir angekommen sind. Sie hat mir erzählt, dass sie mehrere Wochen bleiben wollte.«
Chloe Dorleac blätterte demonstrativ durch das Anmeldungsregister.
»Nein. Niemand dieses Namens hat je hier gewohnt.«
»Aber das kann nicht sein«, beharrte Mattie mit dem plötzlichen
Ehrgeiz , der Drachenfrau ihren Irrtum nachzuweisen, obwohl sie nicht wusste, wozu eigentlich. Sie war erschöpft, und ihre Beine fingen an wehzutun. Sie sollte auf ihr Zimmer gehen und sich hinlegen , bevor sie zusammenklappte. »Eher klein. Attraktiv. Rote Locken.«
»O ja.« Die violetten Augen der Drachenfrau leuchteten auf. »Ich
weiß , wen Sie meinen. Aber ihr Name ist nicht Cynthia Broome.« Das Telefon klingelte, Chloe Dorleac entschuldigte sich und nahm ab. »Eine Minute«, sagte sie und hielt den Zeigefinger hoch. »Une minute.« Okay, dachte Mattie und wartete , während sich Mademoiselle Dorleac mit ihrem Gesprächspartner angeregt auf Französisch unterhielt. Gut , der Nachname stimmte also nicht. Es war nicht Broome , sondern
irgendetwas anderes mit B. Sie war schlicht zu müde , sich daran zu erinnern. Welchen Unterschied machte es auch? Cynthia Nicht-Broome
war offenbar sehr beschäftigt damit, die Sehenswürdigkeiten von Paris abzuklappern, und darüber hinaus glücklich, es für sich alleine zu tun.
Warum dachte Mattie überhaupt an sie?
»Vergessen Sie’s«,
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