Zähl nicht die Stunden
Atembeschwerden bekommen, Erstickungsanfälle. Am
Ende wirst du ersticken.«
»O Gott!« Mattie erinnerte sich ihrer Panik, als sie bei der
Kernspintomographie in der Röhre gelegen hatte. Fünfundvierzig
Minuten lang das Gefühl, lebendig begraben zu sein. Und nun sollte sie dieses selbe Gefühl vielleicht drei Jahre lang aushalten. Nein, das war nicht möglich. Sie fühlte sich absolut gesund. Sie musste ganz sicher nicht sterben. Das konnte nur ein Irrtum sein.
»Ich möchte eine zweite Meinung.«
»Natürlich.«
»Aber keine Untersuchungen mehr. Bevor es mit diesen
Untersuchungen losging, war ich bei bester Gesundheit.«
»Keine Untersuchungen mehr«, stimmte Lisa zu und wischte sich jetzt
die Tränen ab. »Ich spreche mit Dr. Vance. Er kann sicher jemanden
empfehlen.«
»Denn das kann nur ein Irrtum sein«, fuhr Mattie fort. »Nur weil mir ab und zu mal der Fuß einschläft und ich mit dem Schlüssel ein bisschen ungeschickt bin –« »Matties Lachanfall im Gerichtssaal –« , begann Jake und hielt inne , als Mattie ihm einen wütenden Blick zuwarf.
»Auch das ist ein Teil der Krankheit« , sagte Lisa. »Man weiß im Grunde nicht , warum das so ist , aber plötzliche, unerklärliche Anfälle , Lachen oder Weinen ohne offenkundigen Anlass, gehören in einigen
Fällen zu den Kennzeichen der Krankheit.«
»Ich möchte jetzt wirklich nicht mehr darüber sprechen«, sagte Mattie und sprang auf.
»Dr. Vance möchte, dass du gleich anfängst, ein Medikament mit dem
Wirkstoff Riluzol zu nehmen«, sagte Lisa rasch. »Das ist ein Mittel, das den vorzeitigen Tod der Zellen verhindert. Man nimmt eine Tablette pro Tag. Nebenwirkungen sind nicht zu befürchten. Das Medikament ist
teuer, aber es ist sein Geld wert.«
»Kannst du mir mal sagen, wozu ich dieses Mittel nehmen soll?«,
fragte Mattie , deren früherer Zorn zurückkehrte. Hatte sie Lisa nicht gesagt, dass sie eine zweite Meinung einholen wollte? Wieso sprachen sie hier über Medikamente, als stünde bereits fest, wie diese zweite Meinung ausfallen würde?
»Es gibt dir ein paar Monate mehr.«
»Ja, Monate, in denen ich mich nicht bewegen kann, wo ich mit
Erstickungsanfällen kämpfe, wo ich geistig voll da bin, während mein Körper zum Wrack wird? Besten Dank, Lisa, aber das brauche ich
wirklich nicht.«
»Das Riluzol verlangsamt den Krankheitsverlauf.«
»Mit anderen Worten, es schiebt das Unausweichliche hinaus.«
»Die wissenschaftliche Forschung entdeckt ständig neue
Behandlungsmethoden«, begann Lisa.
»Bitte, Lisa«, unterbrach Mattie, »erspar mir den Sermon von den
Großtaten der medizinischen Forschung und den Wundern , die immer wieder geschehen. Das steht dir nicht.«
»Hier , Mattie.« Lisa schrieb ein Rezept aus und hielt es Mattie hin. Die lehnte es ab. »Ich habe gesagt, ich möchte eine zweite Meinung
einholen.«
Jake nahm das Rezept an sich und schob es in die Tasche seines
grauen Nadelstreifenjacketts. Zu der Rechnung für ein Zimmer im Ritz-Carlton, dachte Mattie mit Bitterkeit.
»Wozu gibst du ihm das?«, fuhr sie Lisa an.
»Ich dachte nur, wir sollten es dahaben«, sagte Jake lahm.
»Wir? Wer ist wir?«
»Mattie –«
»Nein! Du hast überhaupt keine Rechte hier. Du hast diese Rechte
aufgegeben , erinnerst du dich? Ich habe dich nur als Chauffeur mitgenommen.«
»Mattie –«
»Nein. Das alles geht dich überhaupt nichts an. Ich gehe dich nichts an.«
»Du bist die Mutter meines Kindes« , sagte Jake ruhig.
O Gott , Kim, dachte Mattie. Sie drückte die Arme auf den Magen und krümmte sich wie unter Schlägen. Wie sollte sie es Kim sagen? Dass sie ihren Schulabschluss nicht mehr miterleben würde, ihr nicht würde
winken können , wenn sie zum Studium von zu Hause fort ging, nicht auf ihrer Hochzeit tanzen würde, niemals ihr erstes Enkelkind im Arm
halten würde. Dass sie vor den schönen, angstgeweiteten Augen ihrer Tochter langsam ersticken würde.
»Die Mutter deines Kindes«, wiederholte Mattie. Natürlich. Mehr war
sie ihm nie gewesen. Die Mutter seines Kindes. Jammer nicht, dachte sie, und damit richtete sie sich auf, straffte die Schultern und hob den Kopf.
»Ich möchte jetzt gehen!« Sie warf einen raschen Blick auf ihre Uhr und sah, dass es fast halb zwölf war.
»Ich habe eine Verabredung.«
»Was?« Jakes Gesicht war Gold wert.
»Ist Sex erlaubt?«, fragte Mattie Lisa unvermittelt.
»Was?«, rief Jake noch einmal. »Ist es erlaubt?« , wiederholte Mattie, ohne ihren Mann zu
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