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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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Honey weiß Gott nicht verdient, dachte Jake und hielt
    den Kopf direkt unter den breiten dampfenden Strahl, der die Stimme seiner Mutter fortschwemmte. Honey hatte sich in einen unglücklich verheirateten Mann verliebt. Sie hatte vielleicht gehofft, er werde seine Frau verlassen. Sie hatte vielleicht gehofft, sie würden irgendwann in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Ganz sicher hatte sie sich nicht
    vorgestellt, dass er so bald schon und so überstürzt bei ihr einziehen würde. Ganz sicher war sie nicht auf die dramatischen Auswirkungen der heimtückischen Krankheit und des vorzeitigen Todes seiner Frau
    vorbereitet – und schon gar nicht darauf , einem zornigen und verwirrten jungen Mädchen in der Pubertät die Mutter zu ersetzen.
    Die letzten Wochen war für sie alle eine rasende Berg-und-Tal-Fahrt
    gewesen. Und es warf sie immer noch hin und her , sie bangten immer noch um ihr Leben. Nur würden er und Honey mit dem Leben
    davonkommen. Mattie würde nicht so viel Glück haben.
    In den Wochen nach dem Besuch in Lisa Katzmans Praxis hatte er
    sich eingehend über die Krankheit informiert. Nicht alle ihre Opfer starben so rasch , wie Lisa zunächst behauptet hatte. Manche lebten noch bis zu fünf Jahren , und bei 20 Prozent der Menschen, die an ALS litten, erreichte die Krankheit ein Stadium, wo sie sich ohne ersichtlichen
    Grund stabilisierte und nicht weiter fortschritt. Bei Menschen wie
    Stephen Hawking, dem berühmten britischen Physiker, der seit mehr als fünfundzwanzig Jahren mit der Krankheit lebte und immerhin noch im
    Stande gewesen war, um einer anderen willen der Frau den Laufpass zu geben, die in den meisten dieser Jahre zu ihm gestanden hatte. Männer , dachte Jake und drehte mit einem scharfen Ruck des Handgelenks das Wasser aus. Wir sind alle Schurken. Er trat aus der Dusche, und während er sich mit einem von Honeys rosefarbenen Badetüchern abtrocknete, fragte er sich, ob er sich je an so viel Rosa gewöhnen würde. War es möglich , dass Mattie vielleicht noch fünfundzwanzig Jahre leben , oder , genauer gesagt , dahinsiechen würde? Würde sie das wollen?
    »Jason?« , rief Honey aus ihrer kleinen Küche. »Bist du soweit?«
    »Zwei Minuten«, rief er zurück und begann , mit dem Badetuch den Spiegel über dem Waschbecken blank zu wischen , in dessen Glas sein Bild nur verschwommen erschien und gleich wieder unter dem feinen
    feuchten Dunst verschwand. Ich kann sie doch nicht einfach verlassen , dachte er , als Matties Gesicht unversehens das seine überlagerte. Sie hatte beinahe sechzehn Jahre lang sein Leben geteilt. Er konnte sie doch jetzt nicht verlassen , wo ihr höchstens ein oder zwei Jahre blieben.
    Oder drei. Oder fünf.
    Er konnte sie doch nicht einfach dem Verfall überlassen.
    Du hast selbst bereits mehr als fünfzehn Jahre deines Lebens verfallen lassen.
    Er konnte sie doch nicht ganz allein sterben lassen.
    Wir sterben alle allein. Denk an deinen Bruder. Denk an Luke.
    Er konnte sie doch nicht einfach hilflos zurück und an ihrer eigenen Angst ersticken lassen.
    Ich bin mein ganzes Leben lang dabei, langsam zu ersticken.
    Was ist schon ein Jahr mehr , oder auch zwei?«
    Oder d r ei . Oder fünf.
    Er konnte doch nicht jetzt , wo er endlich den Mut aufgebracht hatte , sie zu verlassen, zu ihr zurückkehren. Er liebte sie ja gar nicht.
    Du brauchst sie nicht zu lieben. Du brauchst nur für sie da zu sein.
    Welcher Mann würde sie gerade jetzt im Stich lassen? Wie würde er
    als Mensch dastehen? Böser Jason. Böser Jason. Böser Jason.
    Böserjason, böserjason, böserjason.
    Sechzehn Jahre lang hatte Mattie ihn in der Falle gefangen gehalten, und jetzt fing sie ihn wieder ein. Es spielte keine Rolle, dass sie dem Tod nahe war, dass sie keine Kontrolle über die Situation hatte, dass sie dies so wenig wünschte wie er. Das Resultat war das gleiche. Er saß in der Falle. Er würde mit ihr zusammen lebendig begraben werden.
    »Scheiße! Gottverdammte Scheiße!«, schrie er laut und schlug auf den Spiegel, auf dessen beschlagenem Glas ein klarer Abdruck seiner Faust zurückblieb.
    »Jason? Ist irgendwas?« Honey stand an der Tür.
    Sie schien Jake sehr weit weg zu sein, und er hatte Angst, wenn er wegsähe, würde sie ganz verschwinden. Wie lange würde sie zu warten bereit sein?, fragte er sich. »Honey...«
    »O-oh! Ich glaube, der Ton gefällt mir gar nicht.«
    Jake trat zu ihr und nahm sie bei den Händen. Er zog sie mit sich ins Schlafzimmer und drückte sie auf das Bett

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