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Zähl nicht die Stunden

Titel: Zähl nicht die Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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weiter wandern zu den Armen und später zum Rumpf, bis schließlich
    nur noch der Kopf ihrer Tochter übrig war?
    Ein Vater ohne Gesicht. Eine Tochter ohne Körper. Eine Mutter
    ohne einen blassen Schimmer. Eine tolle Familie.
    Und jetzt wollte Jake nach Hause zurückkehren und wieder an ihrem
    Leben, so viel davon noch übrig war, teilhaben. Er hatte gesagt , er wolle es , weil es das Richtige sei. Aber war es wirklich das Richtige? Und für wen?
    »Du wirst jemanden brauchen , der dich fährt« , hatte er an Matties praktische Seite appelliert, als alle anderen Argumente nicht fruchteten.
    »Ich kann selbst fahren.« »Du kannst nicht selbst fahren. Stell dir vor , du hast noch einen Unfall. Stell dir vor , du fährst jemanden tot!«
    »Kim macht in ein paar Monaten ihren Führerschein. Dann kann sie
    mich fahren.«
    »Findest du nicht, dass du Kim damit überforderst?«
    Mit dieser Frage, so einfach und selbstverständlich, hatte er Mattie zur Kapitulation gezwungen. Unmöglich, von Kim zu verlangen, ihr
    emotionale Stütze zu sein, ihr aufzuhelfen , wenn sie fiel , ihr nachzuräumen , wenn sie selbst ihre Sachen nicht mehr aufräumen konnte , dieses kaputte Leben zusammenzuhalten, ohne selbst daran kaputtzugehen. Mein schönes kleines Mädchen, dachte Mattie, meine
    süße kleine Schulmamsell. Was würde ohne sie aus ihrer Tochter
    werden?
    »Wie soll ich dir sagen, dass ich dich verlassen werde?«, fragte sie laut, als sie draußen den Schlüssel im Schloss hörte.
    »Mama?«, rief Kim aus dem Vestibül. »Was ist los?«, fragte sie, als Mattie an die Küchentür kam. »Du siehst ganz verweint aus.«
    Mattie wollte etwas sagen, aber das Geräusch eines Autos, das in die Einfahrt einbog, lenkte sie ab.
    Kim drehte sich herum und sah durch das kleine Fenster neben der
    Haustür hinaus. »Es ist Daddy«, sagte sie verwirrt , als sie sich wieder nach ihrer Mutter umdrehte. »Was will der denn hier?«

    14
    »Schwören Sie , die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit?«
    »Ich schwöre.«
    »Bitte nennen Sie Ihren Namen und Ihre Adresse.«
    »Leo Butler. State Street einhundertsiebenundvierzig, Chicago.«
    »Bitte nehmen Sie Platz.«
    Von seinem Platz am Verteidigertisch aus sah Jake zu, wie Leo Butler, ein gut gekleideter Mann von zweiundsechzig Jahren mit schütterem
    Haar, die große, derbe Hand von der Bibel nahm und sich vorsichtig auf seinen Stuhl hinunterließ. Selbst im Sitzen blieb er eine imposante
    Gestalt , die , groß und breitschultrig , den kleinen Zeugenstand zu sprengen drohte. Manche Menschen legen ihre Vergangenheit nie ab , dachte Jake. Das traf jedenfalls auf Leo Butler zu , ehemaliger Abwehrspieler bei einer Universitäts-Footballmannschaft , der mit fünfundzwanzig Jahren das Textilimperium seines Vaters geerbt und
    binnen zehn Jahren praktisch zu Grunde gerichtet hatte. Seine Ehefrau Nora hatte ihn gerettet. Sie hatte ihn kurz nach ihrer Heirat vor dem Konkurs bewahrt, und einunddreißig Jahre später hatte sie am Vorabend ihrer Scheidung versucht, ihn zu erschießen.
    Jake sah die zierliche kleine Frau mit dem weißen Haar, die neben ihm saß, lächelnd an. Die Brillanten an den schmalen , blau geäderten Händen , die adrett auf dem grauen Seidenkleid gefaltet waren , versprühten ein Feuerwerk an Glanz. »Ich hab die verdammten Dinger
    bezahlt« , hatte sie bei ihrem ersten Gespräch zu Jake gesagt. »Warum soll ich sie da nicht tragen?« Eindeutig nicht so zart , wie sie wirkte – das war Jake schon in diesem Moment klar geworden. Harter Kern und zarte
    Schale – die ideale Kombination für eine Angeklagte, der versuchter Mord vorgeworfen wurde. In so einem Prozess war Ausdauer so wichtig
    wie äußere Erscheinung und die äußere Erscheinung häufig so
    entscheidend wie konkretes Beweismaterial. Jake wusste aus Erfahrung, dass die Geschworenen nicht selten dazu neigten , zu ignorieren , was sie hörten, und sich lieber auf das verließen, was sie sahen. Und brachten sie einem im Studium nicht als Erstes bei, dass den Schein der Gerechtigkeit zu wahren mindestens genauso wichtig war, wie Gerechtigkeit walten zu lassen?
    In diesem Fall würden die Geschworenen von einer verbitterten,
    unglücklichen und zutiefst gekränkten Frau hören, dass ihr Mann sie wegen einer Frau verlassen hatte, die ihre Tochter hätte sein können.
    Dass sie sich bloßgestellt fühlte durch die Rücksichtslosigkeit ihres Mannes, der sich bald gar nicht mehr bemüht hatte, seine Affäre

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