Zähl nicht die Stunden
heftigen Bewegungen in ihr wie einen
Phantomschmerz. Die Empfindung der Abwesenheit, dachte Mattie.
Der Abwesenheit der Empfindungen bei weitem vorzuziehen.
Was sagte man vom Sex? Wenn es gut war, dann war es großartig ,
und wenn es schlecht war, dann war es immer noch gut. Genauso war es.
»Biegen Sie hier ab«, sagte Mattie zum Fahrer. »Es ist das fünfte Haus von hinten.«
Der Fahrer, ein Mann mittleren Alters mit weißem Stiftenkopf, der
seinem Namensschild zufolge Yuri Popovitch hieß, bremste vor Matties Haus ab. Mattie bemerkte das Licht im Vestibül, der Rest des Hauses
war dunkel. Sie sah auf ihre Uhr. Gleich zehn. Gut möglich, dass Kim schon schlief. Mattie hatte sich nicht die Mühe gemacht anzurufen, um zu prüfen, ob sie wirklich zu Hause geblieben war. Wenn Jake seine Tochter kontrollieren wollte , dann sollte er das tun. Mattie hatte beschlossen , ihr einfach zu vertrauen.
»Danke.« Mattie gab dem Fahrer sein Geld und ein Trinkgeld dazu.
Sie stieß die Autotür auf und schwang die Beine nach draußen. Aber ihre Füße fanden den Boden nicht. Ihre Knie gaben unter ihr nach , und sie stürzte mit dem Gesicht voraus in die dünne Schneedecke, die sich auf der Einfahrt gebildet hatte. Der Fahrer rannte zu ihr, half ihr auf, klopfte ihr den Schnee von den Kleidern. »Haben Sie sich verletzt? Was ist denn passiert?«
»Tut mir Leid«, entschuldigte sich Mattie , die ohne die Hilfe des Mannes nicht stehen konnte. »Ich habe anscheinend ein bisschen zu viel getrunken.« Ja, genau das war es, versicherte sie sich selbst. Zu viel Champagner und Sex – eine tödliche Mischung. Besonders wenn man sie
nicht gewöhnt war.
»Ein Glück, dass Ihnen nicht im Auto schlecht geworden ist.« Yuri
Popovitch half ihr die Treppe zur Haustür hinauf und wartete, während sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel kramte.
»Könnten Sie netterweise...« Sie reichte ihm den Schlüssel.
Er sperrte auf und gab ihr den Schlüssel zurück. »Alles okay, Madam?
Kommen Sie jetzt zurecht?«
»Ja, danke, es geht gut. Nochmals vielen Dank.« Sie hielt sich an der Türklinke fest, als er sie losließ, und sah ihm nach. Er rannte die Treppe hinunter zu seinem Auto und fuhr ab, ohne sich noch einmal
umzusehen. »Es geht gut«, murmelte sie vor sich hin. »Aber das stimmt gar nicht«, rief sie, als sie zu Boden stürzte. »Jake?«, rief sie laut. Keine Antwort. Was hatte sie denn geglaubt? Ihr Mann war natürlich noch
nicht zu Hause. »Kim!«, rief sie, aber auch von Kim kam keine Antwort.
Sie ist wahrscheinlich früh zu Bett gegangen, dachte Mattie, der nichts anderes übrig blieb, als auf dem Bauch über den Gobelinteppich in die Küche zu robben. »Verdammt noch mal!«, rief sie, während sie über die Fliesen zum Küchentisch kroch, ihren Mantel auszog und auf dem
Boden liegen ließ und sich dann an der Lehne eines der Küchenstühle
hochzog. Schluchzend und fluchend, erschöpft von der Anstrengung , ließ sie sich auf den Stuhl fallen. »Was zum Teufel ist nur mit mir los?«
Du weißt genau , was mit dir los ist , flüsterte eine innere Stimme erbarmungslos.
»Nein« , insistierte sie. »Nicht jetzt. Noch nicht.« Du leidest an einer Krankheit, die Amyotrophische Lateralsklerose heißt, hörte sie Lisa sagen und sah das Bild ihrer Freundin neben ihrem eigenen im Glas der Schiebetür zur Terrasse.
»Das klingt ernst.«
Es ist ernst.
»Wie lange habe ich noch?«
Ein Jahr. Vielleicht zwei oder sogar drei.
Mattie schloss die Augen und löschte Lisas Bild aus ihren Gedanken.
Aber die Stimmen ließen sich nicht zum Schweigen bringen. Es war wie bei einem Fernseher, dessen Bildröhre versagt. Der Schirm ist plötzlich leer, aber der Ton bleibt laut und klar.
»Und was geschieht in diesem einen oder auch zwei oder auch drei
Jahren mit mir?«, hörte Mattie sich fragen , obwohl sie die Hände auf ihre Ohren drückte.
Mit dem Fortschreiten der Krankheit werden deine Beine dir den Dienst versagen, und du wirst nicht mehr gehen können. Du wirst in einem Rollstuhl sitzen. Du wirst deine Hände nicht mehr gebrauchen können. Dein Körper wird verkümmern.
»Ich werde eine Gefangene meines Körpers sein« , sagte Mattie. Sie nahm die Hände von den Ohren und öffnete die Augen. Mit
hämmerndem Herzen starrte sie in die Dunkelheit hinaus. »Ich muss
sterben«, sagte sie und zwang sich aufzustehen. Mühsam schlurfte sie zur Schiebetür, entriegelte sie und schob sie auf und trat langsam, vorsichtig , auf die
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