Zähmung der Wildkatze
traurig. „Ich weiß, wie die Zukunft aussehen wird. Er wird sich bald nicht mehr an mein Gesicht erinnern. Er wird immer mehr sich selbst verlieren und es tut weh, zu sehen, wie sein brillanter Verstand verkümmert. Du weißt, dass ich ihn liebe und zu wissen, dass mein Dad irgendwann nicht mehr in der Lage sein wird …“
Erica griff nach ihrer Hand, drückte sie sanft und nickte. Sie musste nicht weitersprechen.
„Hast du je wieder etwas von Amy gehört?“
„Die Frau, die sich katholische Ehefrau nennt und meine Mutter schimpft? Sie interessiert sich nicht dafür. Wie war das noch? In guten wie in schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit? Als sie mit ihrem Koffer aus der Tür gegangen ist, hat sie sich dafür entschieden, in der Hölle zu schmoren. Und sie hätte es verdient. Sie hat das alles nicht mehr ertragen. Weißt du, was sie sagte, als sie ging?“ Ein wenig Verbitterung klang in ihrer Stimme mit. „Gott hätte ihr ein Zeichen gegeben, weil er ihr Dexter genommen hat, ihren geliebten Sohn. Und an der Krankheit wäre Dad selbst schuld, weil er nie zum wahren Glauben gefunden hat und Gott ihn nun dafür bestraft.“ Marie schnaubte kopfschüttelnd und lehnte sich in ihrem Bistrostuhl zurück.
„Ich kann verstehen, dass du sie dafür hasst.“
„Hassen?“ Sie lachte amüsiert auf und es klang echt. „Über den Punkt bin ich längst hinweg. Das hat mich stärker gemacht und mir eine harte, aber lehrreiche Lektion erteilt. Diese Frau zu hassen, wäre Energieverschwendung und es gibt Wichtigeres, als über das Warum zu grübeln. Oder darauf zu warten, dass sie vielleicht zur Besinnung kommt und zurückkehrt. Ganz ehrlich? Nachdem sie gegangen war, ist mein Vater fast daran erstickt. Heute gibt es noch Momente, in denen er sich an diesen Tag erinnert und ihn erneut durchlebt. Sie hat ihm das Herz gebrochen, und wenn man etwas Gutes an dieser verdammten Krankheit sehen möchte, dann, dass auch diese Erinnerung verschwinden wird. Er hat sie geliebt und sie hat ihn im Stich gelassen. So einfach ist das.“
„Du wärst sicher eine tolle Anwältin geworden.“
„Die Beste.“ Erneut griff Marie zum Handy und tippte.
Weichei!
Und weil es so Spaß machte, gleich noch eine Nachricht hinterher.
Was bist du nur für ein Waschlappen
.
„Was tippst du da eigentlich die ganze Zeit?“
Marie setzte eine Unschuldsmimik auf und lächelte zuckersüß. „Nichts Besonderes, nur ein paar kleine Nettigkeiten.“
„Marie?“ Der Unterton in Ericas Stimme zeigte deutlich, wie gut die Freundin sie kannte. „Wie heißt er und was hat er angestellt?“
Sie schüttelte den Kopf und wurde plötzlich ernst. Am Abend, nachdem sie von Stuart heimgekommen war, wollte sie reden, wollte ihrer Freundin alles erzählen, in der Hoffnung, sie könne ihr manche Gefühle und Empfindungen erklären. Sie hatte es nicht einmal geschafft, Ericas Nummer zu wählen. Erneut überkam sie das Gefühl, sich ihr mitteilen zu wollen, aber was sollte sie ihr sagen?
Juhu, ich gehöre jetzt auch zum Perversenclub wie du?
Undenkbar, nach allem, was sie ihr an den Kopf geworfen hatte, als Erica ihr von den neu entdeckten Neigungen erzählte. Marie erinnerte sich an den Nachmittag, als die beiden Honeymoonschätzchen von der Hochzeitsreise zurückgekehrt waren und sie ihr alles von der Zeit mit Simon berichtetet hatte. So viele Gedanken, wie Erica sich im Laufe der Zeit gemacht hatte, warum, wieso, weshalb … Marie hinterfragte es nicht, sie sah das Spiel als eine Art erotisches Abenteuer und eine neue Erfahrung. Abermals griff sie zum Handy.
Ohne Peitsche in der Hand bist du nur eine Krücke
. Das Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück. Plötzlich kam Hektik auf und Marie verabschiedete sich eilig. Sie hatte die Mittagspause hemmungslos überzogen und Paul stand allein im Laden. „Tut mir leid, Missie. Wir telefonieren, okay?“
Die Freundin nickte.
Kaum betrat Marie das Geschäft, rannte sie fast in Jamie hinein. „Oh, du … ähm, ich meine Sie!“
Diesmal ließ er sich von ihr eine Auswahl an Krawatten zeigen und die Stoffe sowie die Dessins erklären. Wie durch Zufall kam es immer wieder zu Berührungen seinerseits, was ihr überhaupt nicht gefiel. Marie ging auf Abstand und beherrschte sich, darauf einzugehen. Sein süffisantes Lächeln zeigte deutlich, dass er sie mit voller Absicht anfasste. Bis er sich für Binder der Kollektion entschieden hatte, dauerte es geschlagene zwei Stunden und diese wirkten wie eine Geduldsprobe
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