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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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alle versuchen gut zu sein«, sagte er.
    Beim Hinausgehen schickte er die Krankenschwester zu ihr hinein. Es gab noch andere Patienten, die er besuchen musste: zum Beispiel ein fünfzehnjähriges amerikanisches Mädchen, das nach dem Grundsatz erzogen worden war, dass die Kindheit ein einziger Spaß wäre. Er musste sie besuchen, weil sie sich gerade sämtliche Haare mit der Nagelschere abgehackt hatte. Es gab nicht viel, was man für sie tun konnte   – sie hatte eine Familiengeschichte voller Neurosen und es gab nichts Stabiles in der Vergangenheit, worauf man bauen konnte. Der Vater, ein ganz normaler, pflichtbewusster Mann, hatte versucht, seine nervöse Brut |286| vor den Kämpfen des Lebens zu schützen und hatte damit nur verhindert, dass seine Kinder die nötige Anpassungsfähigkeit an die unvermeidlichen Wechselfälle des Schicksals entwickelten. Es gab nur wenig, was Richard ihr sagen konnte: »Helen, wenn du Zweifel hast, musst du eine der Schwestern fragen. Du musst lernen, einen Rat anzunehmen. Versprich mir, dass du das tun wirst.«
    Was war ein Versprechen, wenn der Kopf krank war? Er schaute bei einem gebrechlichen Verbannten aus dem Kaukasus vorbei, der in einer Art Hängematte festgeschnallt und in ein warmes medizinisches Bad getaucht war, und bei den drei Töchtern eines portugiesischen Generals, die beinahe unmerklich der Paresis 1* entgegenglitten. Im Nebenzimmer besuchte er einen Psychiater, der einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, und sagte ihm, dass es ihm besser ginge, jeden Tag etwas besser. 2* Der Mann versuchte in seinem Gesicht zu lesen, ob er selbst davon überzeugt war, denn seine einzige Verbindung zur realen Welt waren die Resonanz in Doktor Divers Stimme und die Bestätigung, die er darin fand. Danach entließ er noch einen unfähigen Krankenpfleger, und dann war es auch schon Zeit zum Mittagessen.

15
    Die Mahlzeiten mit den Patienten waren eine Pflicht, die er nur widerwillig auf sich nahm. Die Versammlung, an der die Bewohner des »Buchen-« und »Rosenhauses« natürlich nicht teilnahmen, war auf den ersten Blick durchaus gewöhnlich, aber es lag doch immer eine schwere Melancholie über den Anwesenden. Die Ärzte versuchten zwar, ein |287| Gespräch in Gang zu halten, aber die meisten Patienten schienen von den Anstrengungen des Vormittags so erschöpft oder von der Mittagsgesellschaft so deprimiert, dass sie wenig sprachen und beim Essen nur auf die Teller blickten.
    Als das Essen vorbei war, kehrte Dick zu seiner Villa zurück. Nicole saß im Wohnzimmer, sie machte ein irritiertes Gesicht. »Lies das mal«, sagte sie.
    Er faltete den Brief auf. Er stammte von einer Patientin, die kürzlich gegen den Rat des Kollegiums entlassen worden war. Dick wurde darin unmissverständlich beschuldigt, die Tochter dieser Patientin verführt zu haben, die während der kritischen Phase der Krankheit an der Seite ihrer Mutter gewesen war. Es wurde dabei unterstellt, dass Mrs Diver sicher froh sei, diese Information zu erhalten und so zu erfahren, »wie Ihr Mann wirklich ist«.
    Dick las den Brief noch einmal von vorn. Trotz der klaren und prägnanten Sprache erkannte er darin das Werk einer Manisch-Depressiven. Auf ihre Bitte hin hatte er die Tochter, eine kokette kleine Brünette, einmal in seinem Wagen nach Zürich mitgenommen und am Abend wieder in die Klinik zurückgebracht. Auf müßige, beinahe nachsichtige Weise hatte er sie geküsst. Sie hatte die Affäre später vertiefen wollen, aber er war nicht interessiert, und in der Folge, vielleicht weil sie ihm das übel nahm, hatte das Mädchen ihre Mutter aus der Klinik weggeholt.
    »Der Brief ist gestört«, sagte er. »Ich hatte keinerlei Beziehung zu diesem Mädchen. Ich habe sie nicht mal gemocht.«
    »Ja, das habe ich auch zu denken versucht«, sagte Nicole. »Du glaubst das doch nicht etwa?«
    »Ich habe hier nur so gesessen   …«
    Er senkte vorwurfsvoll die Stimme und setzte sich neben |288| sie. »Das ist doch absurd. Das ist ein Brief von einer geisteskranken Patientin.«
    »Ich war auch so eine Patientin.«
    Er stand wieder auf und wurde energisch. »Wie wär’s, wenn wir jetzt aufhören mit diesem Unsinn, Nicole? Geh, treib die Kinder zusammen und dann fahren wir los.«
    Dann saßen sie alle im Auto, mit Dick am Steuer, und fuhren am See entlang. Wenn sie nicht durch dunkle Tunnel von immergrünen Nadelbäumen brausten, brachen sich an der Windschutzscheibe das grelle Sonnenlicht und der Widerschein auf dem Wasser. Der

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