Zaertlich ist die Nacht
Wagen gehörte Dick, es war ein zwergenhafter Renault 1* , aus dem sie nach allen Seiten herausragten, außer den Kindern auf dem Rücksitz, zwischen denen die Mademoiselle sich mastenhaft auftürmte. Sie kannten jeden Kilometer der Straße und wussten, wo sie Tannennadeln und wo sie schwarzen Ofenrauch riechen würden. Eine hoch stehende Sonne mit einem Gesicht darin stach heftig auf die Strohhüte der Kinder herunter.
Nicole schwieg, und Dick war über ihren harten Blick beunruhigt. Oft fühlte er sich einsam mit ihr, und häufig ermüdete sie ihn mit Sturzfluten von persönlichen Enthüllungen, die sie ausschließlich für ihn reservierte: »Ich bin so, nein, eigentlich eher so.« Aber an diesem Nachmittag wäre er froh gewesen, wenn sie eine Weile im Stakkato auf ihn eingeredet und ihm Einblick in ihre Gedanken gegeben hätte. Die Lage war immer am bedrohlichsten, wenn sie sich in sich selbst zurückzog und die Türen hinter sich zumachte.
Mademoiselle stieg in Zug aus, während die Divers zum Jahrmarkt nach Ägeri weiterfuhren. Auf dem Weg dorthin mussten sie sich einen Weg durch eine ganze Herde von gewaltigen Dampfwalzen bahnen, die aber Platz für sie |289| machten. Dick stellte den Wagen ab, und als Nicole ihn ansah, ohne sich zu rühren, sagte er: »Na komm, Schatz!« Ihre Lippen verzogen sich zu einem plötzlichen, schrecklichen Lächeln. Sein Magen zog sich zusammen, aber als ob er nichts gesehen hätte, wiederholte er: »Komm, damit die Kinder aussteigen können.«
»Ach, ich werd schon noch kommen«, sagte sie, aber diese Worte kamen aus irgendeiner Geschichte, die sich so rasch in ihr entwickelte, dass er sie nicht greifen konnte. »Mach dir keine Gedanken deswegen. Ich werde kommen –«
»Dann komm.«
Sie wandte sich ab, als sie neben ihm herging, aber das böse Lächeln zuckte noch immer auf ihrem Gesicht, höhnisch und unnahbar. Erst als Lanier sie ein paar Mal angesprochen hatte, konnte sie sich wieder auf einen Gegenstand konzentrieren, ein Kasperletheater. Und indem sie dort Anker warf, konnte sie sich neu orientieren.
Dick überlegte angestrengt, was er tun sollte. Der doppelte Blickwinkel auf Nicole – als Ehemann einerseits und als Psychiater andererseits – lähmte zunehmend seine geistigen Fähigkeiten. In den letzten sechs Jahren hatte sie ihn mehrfach mit über die Grenze gezogen, indem sie entweder Mitleid in ihm erregte oder ihn in einer Flutwelle von fantastischem, zusammenhanglosem Witz mit sich riss. Erst, wenn er sich nach so einer Episode wieder entspannte, merkte er, dass sie wieder einmal einen Punktsieg gegen seine Urteilskraft errungen hatte.
Nach einer kurzen Diskussion mit Topsy über die Frage, ob dieser Kasper hier derselbe war wie der, den sie letztes Jahr in Cannes gesehen hatten, konnte die Familie zwischen den Marktständen weitergehen. Die Hauben der Frauen, die Samtmieder und die weiten, bunten Trachtenröcke aus vielen |290| Kantonen wirkten sehr züchtig vor den blau-orange gestrichenen Wagen der Schausteller. Irgendwo hörte man die klirrende, wimmernde Musik einer Tanztruppe.
Plötzlich fing Nicole an zu rennen, so plötzlich, dass Dick sie erst gar nicht vermisste. Er sah nur auf einmal ihr gelbes Kleid, das durch die Menge flitzte wie ein ockerfarbener Stich an der Naht zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit, und schon lief er hinter ihr her.
Heimlich rannte sie, und heimlich rannte er hinterher. Während der heiße Nachmittag schrill und schrecklich von ihrer Flucht wurde, vergaß er die Kinder; dann drehte er sich hastig um und rannte zu ihnen zurück, zerrte sie an den Armen mal hierhin, mal dorthin, während seine Blicke von einer Bude zur nächsten sprangen. –
»Madame«
, rief er einer jungen Frau zu, die hinter einem weißen Glücksrad stand.
»Est-ce que je peux laisser ces petits avec vous deux minutes? C’est très urgent – je vous donnerai dix francs.«
»Mais oui.«
Er schob die Kinder in den Stand.
»Alors – restez avec cette gentille dame.«
»Oui, Dick.«
Er schoss erneut los, aber er hatte Nicole aus den Augen verloren; er umkreiste das Karussell, bis er merkte, dass er genauso schnell wie die Drehscheibe war und ständig auf dasselbe Pferd starrte. Er drängte sich mit den Ellbogen durch die Menge in der Buvette; dann fiel ihm eine andere Vorliebe Nicoles ein und er spähte ins Zelt einer Wahrsagerin. Eine monotone Stimme begrüßte ihn:
»La septième fille d’une septième fille née sur les rives
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