Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
Vom Netzwerk:
vorsichtig, wenn ihr über die Straße geht! Ihr müsst in beide Richtungen schauen«, rief ihnen Dick nach.
    Er und Nicole sahen sich direkt an, ihre Augen waren wie brennende Fenster desselben Hauses, die sich über einen Innenhof anstarren. Dann holte sie ihre Puderdose heraus, betrachtete sich im Spiegel und strich ihre Schläfenhaare zurück. Dick sah den Kindern nach, bis sie auf dem halben Weg zwischen den Fichten verschwanden; dann ging er um den Wagen herum, versuchte den Schaden abzuschätzen und überlegte, wie er ihn auf die Straße zurückbringen könnte. Auf der schlammigen Wiese hinter sich konnte er über dreißig Meter den Schlingerkurs nachverfolgen, den sie zurückgelegt hatten. Er war mit einem wilden Abscheu erfüllt, der mit Ärger nur wenig zu tun hatte.
    Nach ein paar Minuten kam der Wirt vom Gasthof heruntergerannt. »Mein Gott!«, rief er. »Wie ist das passiert? Sind Sie zu schnell gefahren? Was für ein Glück! Ohne den Baum wären Sie den ganzen Berg heruntergerollt!«
    Emile mit seiner breiten schwarzen Schürze und den Schweißtropfen auf seinem feisten Gesicht war so real, dass |297| Dick die Gelegenheit nutzte und Nicole ganz sachlich signalisierte, dass er ihr jetzt heraushelfen wolle. Woraufhin sie auf der unteren Seite aus dem Wagen heraussprang, das Gleichgewicht auf dem Abhang verlor, stolperte, auf die Knie fiel und dann wieder aufstand. Während sie die Männer dabei beobachtete, wie sie den Wagen zu bewegen versuchten, wurde ihr Gesicht trotzig.
    Dick begrüßte jetzt sogar diese Stimmung: »Geh rauf und warte bei den Kindern, Nicole.«
    Erst als sie schon weg war, fiel ihm wieder ein, dass sie Cognac hatte trinken wollen, den es da oben natürlich gab. Er solle sich um den Wagen nicht kümmern, sagte er zu Emile. Sie könnten ja auf den Chauffeur warten und den Renault dann mit dem großen Wagen wieder zur Straße hinaufziehen. Gemeinsam rannten sie zum Gasthof hinauf.

16
    »Ich will verreisen«, teilte er Franz mit. »Einen Monat vielleicht. So lange wie möglich.«
    »Warum nicht. Das war ja von vornherein so verabredet, Dick. Du warst derjenige, der hierbleiben wollte. Wenn du und Nicole   –«
    »Ich will nicht mit Nicole verreisen. Ich will allein wegfahren. Dieser letzte Zwischenfall hat mich fertiggemacht   – wenn ich von vierundzwanzig Stunden zwei schlafen kann, dann ist das eins von Zwinglis Wundern.«
    »Du willst also einen Urlaub mit richtiger Abstinenz.«
    »Du meinst wahrscheinlich ›Absenz‹. Hör mal, wenn ich zum Psychiatrie-Kongress nach Berlin fahre, kannst du |298| dafür sorgen, dass hier alles friedlich bleibt? Drei Monate lang war jetzt alles in Ordnung, und sie mag ihre Pflegerin. Mein Gott, du bist der einzige Mensch, den ich darum bitten kann.«
    Franz grunzte und überlegte, ob man ihm eigentlich zumuten konnte, immer an die Interessen seines Partners zu denken.
     
    In der nächsten Woche fuhr Richard zum Flughafen Zürich und nahm das große Flugzeug nach München. Er war wie betäubt, als sie in den blauen Himmel hinaufdonnerten, und spürte jetzt, wie müde er war. Eine gewaltige, verführerische Ruhe erfasste ihn. Er überließ die Krankheit den Kranken, den Krach den Motoren und dem Piloten die Flugrichtung. Er hatte nicht die geringste Absicht, den Kongress zu besuchen   – er konnte sich nur allzu gut vorstellen, was dort geschah: neue Thesen von Bleuler und dem älteren Forel, die er zu Hause viel besser studieren konnte; ein Vortrag von dem Amerikaner, der Dementia praecox heilte, indem er den Patienten Zähne zog oder die Mandeln herausschnitt; der halb spöttische Respekt, mit dem diese Ideen begrüßt werden würden, wenn auch nur deshalb, weil Amerika so ein reiches und mächtiges Land war. Auch die anderen Delegierten aus Amerika standen ihm deutlich vor Augen: der rothaarige Schwartz mit dem Gesicht eines Heiligen und der unendlichen Geduld beim Spagat zwischen zwei Welten, sowie Dutzende von kommerziellen Irrenärzten mit Armesündergesichtern und Hundeblick, die einerseits deshalb da waren, um ihr Renommee zu erhöhen und auf diese Weise an die lukrativen Aufträge als Gerichtsgutachter zu kommen, und andererseits, um die neuesten Fachausdrücke und Euphemismen |299| zu lernen, mit denen sie hofften, ihre Praxis interessanter machen und alle bestehenden Werte noch weiter verwirren zu können. Es würden zynische Italiener und Franzosen da sein und irgendein Vertreter Freuds aus Wien. Wortgewandt würde der große Jung

Weitere Kostenlose Bücher