Zaertlich ist die Nacht
–«
Der Aufnahmeleiter machte eine kleine Tür in der kahlen Wand des Studios auf und mit einem plötzlichen, beglückenden Gefühl der Vertrautheit folgte sie ihm in das Halbdunkel. Hier und da erschienen Gestalten im Zwielicht und wandten ihr aschenbleiche Gesichter zu wie Seelen im Fegefeuer, die einen Lebenden an sich vorbeigehen sehen. Flüstern, leise Stimmen und im Hintergrund das sanfte Tremolo einer kleinen Orgel waren zu hören. Hinter den Kulissen bogen sie ab und stießen auf das grellweiße Licht einer Bühne, wo ein französischer Schauspieler – dessen Hemd, Manschetten und Kragen leuchtend Rosa 1* waren – und eine amerikanische Schauspielerin sich mit verbissenem Blick reglos anstarrten, als ob sie schon seit Stunden so dastünden. Auch jetzt rührte sich lange Zeit gar nichts. Mit einem wütenden Zischen erlosch eine Scheinwerferbatterie und ging gleich wieder an; irgendwo bat ein Hammer jämmerlich klopfend um Einlass; ein blaues Gesicht erschien zwischen den blendenden Lichtern und schrie etwas |41| Unverständliches in die schwarze Dunkelheit über den Scheinwerfern. Dann wurde das Schweigen von einer Stimme vor ihr gebrochen. »Baby, du sollst die Strümpfe nicht ausziehen. Mehr als zehn Paare darfst du nicht zerreißen. Und das Kleid kostet auch fünfzehn Pfund.«
Der Sprecher machte zwei Schritte rückwärts und stieß mit ihr zusammen, woraufhin der Aufnahmeleiter sie vorstellte: »Hey, Earl, das ist Miss Hoyt.«
Es war ihre erste Begegnung. Brady war hektisch und anstrengend. Als er ihre Hand ergriff, sah sie, wie er sie von Kopf bis Fuß musterte, eine wohlvertraute Geste, die ihr das Gefühl gab, zu Hause zu sein. Zugleich verschaffte sie ihr auch ein gewisses Überlegenheitsgefühl gegenüber demjenigen, der sie machte. Wenn ihre Person eine Ware war, dann konnte sie auch jeden Vorteil nutzen, der sich aus ihrem Besitz ergab.
»Ich dachte mir, dass Sie dieser Tage vorbeischauen«, erklärte Brady mit einer Stimme, die ein klein wenig zu energisch für das Privatleben war und einen leicht trotzigen Cockney-Akzent hinter sich herzog. »Gute Reise gehabt?«
»Ja, aber wir sind froh, wenn wir wieder nach Hause kommen.«
»Nei-i-i-n!«, protestierte er. »Bleiben Sie eine Weile – ich will mit Ihnen reden. Ich muss Ihnen sagen, das war wirklich ein toller Film – ›Daddy’s Girl‹. Ich habe ihn in Paris gesehen und gleich nach Kalifornien telegrafiert, um zu sehen, ob Sie schon ausgebucht waren.«
»Ich hatte gerade unterschrieben – tut mir leid.«
»Mein Gott, was für ein Film!«
Da sie nicht in alberner Zustimmung lächeln wollte, runzelte sie die Stirn. »Niemand will den Leuten bloß mit einem einzigen Film in Erinnerung bleiben«, sagte sie.
|42| »Sicher – das stimmt. Was sind Ihre Pläne?«
»Mutter findet, dass ich etwas Ruhe brauche. Wenn ich wieder zurück bin, werden wir wahrscheinlich bei der First National unterschreiben oder bei Famous bleiben.«
»Wer ist wir?«
»Meine Mutter. Sie kümmert sich um die Geschäfte. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne sie tun sollte.«
Wieder musterte er sie komplett, und als er das tat, löste es ein warmes Gefühl bei ihr aus. Nicht, dass sie ihn gemocht hätte, es war nicht die spontane Begeisterung, die sie für den Mann am Strand heute Morgen empfunden hatte. Es war nur ein Einrasten. Er begehrte sie, und soweit es ihre jungfräulichen Gefühle erlaubten, erwog sie eine Übergabe mit Gleichmut. Andererseits wusste sie, dass sie ihn eine halbe Stunde nach ihrem Weggang genauso vergessen würde wie einen Schauspieler nach einer Kuss-Szene.
»Wo sind Sie abgestiegen?«, fragte er. »Ach ja, richtig, bei Gausse. Nun ja, meine Planungen für dieses Jahr sind auch abgeschlossen, aber der Brief, den ich Ihnen geschrieben habe, ist nach wie vor gültig. Ich würde lieber mit Ihnen einen Film drehen als mit jedem anderen Mädchen seit Connie Talmadge 2* .«
»Das geht mir genauso. Warum kommen Sie nicht nach Hollywood zurück?«
»Weil ich das Scheißkaff nicht ausstehen kann. Hier geht’s mir gut. Warten Sie, bis wir mit der Einstellung fertig sind, dann führe ich Sie herum.«
Er betrat die Bühne und redete mit leiser und ruhiger Stimme auf den französischen Schauspieler ein.
Fünf Minuten vergingen, aber Brady redete immer weiter, während der Franzose ab und zu mit den Füßen scharrte und nickte. Dann brach Brady abrupt ab und rief den |43| Scheinwerfern etwas zu, was diese zu summendem
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