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Zaertlich ist die Nacht

Zaertlich ist die Nacht

Titel: Zaertlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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Jeder Mann und jede Kanone gehorchen seinem Befehl.« Hektische Kellner waren daraufhin |122| aus dem Nichts aufgetaucht, in der Halle wurde ein Tisch gedeckt, und als der von Abe dargestellte »General Pershing« hereinkam, standen alle stramm und gaben Fetzen von Kriegsliedern von sich, die ihnen gerade so einfielen. Die beleidigte Reaktion der Kellner auf diesen Anti-Höhepunkt bestand darin, sie einfach zu ignorieren, und so bauten sie eine Kellnerfalle   – ein riesiges, fantastisches Gebilde nach Art eines Goldberg-Cartoons, zu dessen Konstruktion alle Möbel der Eingangshalle gebraucht wurden.
    Abe schüttelte beim Anblick des bizarren Gebildes den Kopf. »Vielleicht wäre es doch besser, eine singende Säge zu stehlen und   –«
    »Es reicht«, unterbrach Mary. »Wenn Abe erst einmal damit anfängt, ist es höchste Zeit, dass wir nach Hause gehen.« Ängstlich erklärte sie Rosemary: »Ich muss Abe nach Hause kriegen. Sein Zug geht um elf. Wenn er den nicht kriegt, verpasst er das Schiff. Es ist doch so wichtig   – ich habe das Gefühl, unsere ganze Zukunft hängt davon ab. Aber wenn ich mit ihm streite, tut er immer genau das Gegenteil.«
    »Ich werde versuchen, ihn zu überreden«, bot Rosemary an.
    »Das würden Sie tun?«, sagte Mary. »Vielleicht würde es Ihnen ja gelingen.«
    Kurz darauf kam Dick, um mit Rosemary zu reden. »Nicole und ich gehen nach Hause, und wir dachten, du willst vielleicht mitkommen.«
    Ihr Gesicht war blass vor Übermüdung. Zwei dunkle Flecken auf ihren Wangen deuteten an, wo tagsüber die Farbe war. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich habe Mary North gerade versprochen, bei ihnen zu bleiben   – sonst geht Abe nie ins Bett. Kannst du nicht etwas tun?«
    |123| »Weißt du nicht, dass man andere Menschen nicht ändern kann?«, sagte er. »Wenn Abe mein Zimmerkamerad im College und zum ersten Mal besoffen wäre, wäre es vielleicht anders. Aber jetzt ist nichts mehr zu machen.«
    »Gut, ich muss jedenfalls bleiben«, sagte sie beinahe trotzig. »Er hat gesagt, er würde nur ins Bett gehen, wenn wir mit ihm zu den Markthallen fahren.« 1*
    Er küsste sie rasch in die Armbeuge.
    »Lass Rosemary nicht allein nach Hause gehen«, rief Nicole Mary zu, als sie gingen. »Wir sind ihrer Mutter gegenüber verantwortlich.«
    – Später fuhren Rosemary, das Ehepaar North, ein Puppenstimmenfabrikant aus Newark, der allgegenwärtige Collis Clay und ein riesiger, fabelhaft gekleideter Öl-Indianer 2* namens George T.   Horseprotection auf einem mit Tausenden von Karotten beladenen Pferdefuhrwerk zum Markt. Die Erde im Mohrrübenkraut duftete süß in der Dunkelheit, und Rosemary saß so weit oben auf der Ladung, dass sie die anderen in den langen Schattenpausen zwischen den Straßenlaternen kaum sah. Ihre Stimmen drangen nur aus großer Ferne zu ihr, denn im Herzen war sie bei Dick. Es tat ihr schon leid, dass sie bei den Norths geblieben war; sie wünschte sich, sie wäre im Hotel und er schliefe auf der anderen Seite des Flurs, oder er wäre jetzt hier bei ihr, während die warme Dunkelheit auf sie herabströmte.
    »Komm lieber nicht rauf!«, rief sie zu Collis hinunter. »Sonst kommen die Karotten ins Rutschen.« Eine davon warf sie Abe an den Kopf, der so steif wie ein alter Mann neben dem Kutscher saß   …
    Noch später ging es im hellen Morgenlicht endlich nach Hause, als die Tauben schon über Saint-Sulpice kreisten. |124| Alle fingen sie spontan an zu lachen, weil sie wussten, dass es noch letzte Nacht war, während die Leute auf der Straße der Illusion unterlagen, es wäre ein heißer Morgen.
    ›Zumindest war ich auf einer wilden Party‹, dachte Rosemary. ›Aber wenn Dick nicht dabei ist, macht’s keinen Spaß.‹ Sie fühlte sich ein wenig verraten und traurig, aber jetzt kam eine neue Sensation in Sicht: eine üppige Kastanie in voller Blüte, die auf dem Weg zu den Champs-Élysées auf einem Lastwagen festgeschnallt war und sich vor Lachen schüttelte   – wie eine schöne Frau in entwürdigender Haltung, die trotzdem sicher ist, immer noch zu bezaubern. Rosemary starrte sie fasziniert an. Sie identifizierte sich mit ihr und lachte laut mit. Alles schien plötzlich herrlich.

19
    Abe fuhr tatsächlich um elf vom Gare Saint-Lazare ab. Allein stand er unter der rußigen Glaskuppel, einem Überbleibsel der Siebzigerjahre, als auch der Crystal Palace erbaut wurde; seine Hände waren von jener grauen Farbe, die erst nach vierundzwanzig schlaflosen Stunden erreicht

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