Zaertlich ist die Nacht
ihm, der ihm schon seit frühester Jugend bekannt war: Das war einer der Männer, die mit einem Arm auf der Theke in Tabakgeschäften herumstanden und aus den Augenwinkeln die Leute beobachteten. Auch an Tankstellen waren sie anzutreffen, wo sie halblaut irgendwelche unbestimmten Geschäfte besprachen, in Frisiersalons und den Eingangshallen von Theatern und Kinos – dort, glaubte Dick, gehörte dieser Typ hin. Manchmal tauchten solche Gesichter in Tad’s Cartoons auf, und als er noch ein kleiner Junge war, hatte Dick oft unbehagliche Blicke auf diese Eckensteher im schummrigen Grenzgebiet des Verbrechens geworfen.
»Wie gefällt dir Paris, Kumpel?« Ohne auf eine Antwort zu warten, versuchte der Mann, seine Schritte an die von Dick anzupassen. »Wo kommst du her?«, fragte er aufmunternd.
|144| »Aus Buffalo.«
»Ich bin aus San Antonio – aber seit dem Krieg bin ich hier drüben.«
»Sind Sie bei der Armee?«
»Da bin ich gewesen, und wie. 84ste Infantrie-Brigade – schon mal von der Truppe gehört?« Der Mann lief jetzt einen halben Schritt vor ihm her und fixierte ihn mit bedrohlichen Blicken. »Bist du länger in Paris, Kumpel? Oder nur auf der Durchreise?«
»Auf der Durchreise.«
»In welchem Hotel bist du abgestiegen?«
Dick hätte innerlich fast zu lachen begonnen – der Bursche hatte offenbar die Absicht, sein Zimmer heute Nacht auszurauben. Allerdings las er seine Gedanken offenbar ohne schlechtes Gewissen.
»Mit deinem Knochenbau brauchst du doch keine Angst vor mir zu haben, Kumpel. Es gibt hier eine Menge Kerle, die amerikanischen Touristen auflauern, aber vor mir brauchst du keine Angst zu haben.«
Die Sache fing Dick an zu langweilen, und er blieb stehen: »Ich frage mich nur, warum Sie so viel Zeit haben.«
»Ich bin geschäftlich hier in Paris.«
»In welcher Branche.«
»Zeitungen verkaufen.«
Der Gegensatz zwischen dem bedrohlichen Auftreten und dem harmlosen Beruf war lächerlich – und der Mann versuchte, den Eindruck irgendwie zu verbessern: »Keine Sorge, ich habe im letzten Jahr eine Menge verdient – zehn oder zwanzig Francs für eine Sunny Times, die mich bloß sechs kostet.«
Er zog einen Zeitungsausschnitt aus seiner etwas rostigen Brieftasche und zeigte ihn Dick, der fast schon zu |145| seinem Begleiter bei seinem Spaziergang geworden war. Es war ein Cartoon, der einen mit Gold und Dollars beladenen Dampfer zeigte, von dem zahllose Amerikaner an Land strömten.
»Zweihunderttausend – die geben jeden Sommer zehn Millionen aus.«
»Und was machen Sie hier in Passy?«
Sein Begleiter sah sich vorsichtig um. »Filme«, flüsterte er. »Hier draußen gibt es ein amerikanisches Filmstudio. Die brauchen Leute, die Englisch können. Ich warte auf meine Chance.«
Dick schüttelte ihn kurz und energisch ab. Es war offensichtlich, dass Rosemary entweder bei einer seiner ersten Runden entkommen oder schon gegangen war, als er hier ankam; er ging in ein Bistro an der Ecke, kaufte eine bleierne Telefonmarke und quetschte sich in die Nische zwischen der Küche und der stinkenden Toilette, um das Roi George anzurufen. In seiner Atmung erkannte er das Cheyne-Stokes-Symptom 1* – aber wie alles andere reduzierte ihn auch das nur wieder auf seine Gefühle. Er nannte der Vermittlung die Zimmernummer; dann starrte er mit dem Hörer in der Hand in das Café; bis eine fremde kleine Stimme sagte: »Hallo?«
»Hier ist Dick – ich musste dich einfach anrufen.«
Eine Pause von ihrer Seite – dann in einer Tonlage, die zu seinen Gefühlen passte, die tapfere Antwort: »Ich bin froh, dass du das gemacht hast.«
»Ich wollte dich abholen – ich bin hier draußen in Passy, direkt gegenüber vom Studio. Ich dachte, wir könnten vielleicht eine Fahrt durch den Bois machen.«
»Ach, das tut mir leid. Ich bin nur eine Minute geblieben.« Dann Schweigen.
|146| »Rosemary.«
»Ja, Dick.«
»Hör mal, du hast mich in einen ganz außergewöhnlichen Zustand versetzt. Wenn ein Kind einen älteren Herrn so verstören kann – wird es sehr problematisch.«
»Du bist doch kein älterer Herr, Dick – du bist der jüngste Mensch auf der Welt.«
»Rosemary?«
Schweigen, während er auf das Regal mit den bescheideneren französischen Giften starrte: Otard, Rhum St James, Marie Brizard, Punch Orangeade, Fernet-Branca, Cherry Rocher, Armagnac.
»Bist du allein?«
–
Haben Sie etwas dagegen, wenn ich den Vorhang zuziehe?
»Mit wem sollte ich denn
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