Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman
Menschheit wachsen wird, wenn er den Schleier in die Finger bekommt.« Diese Perspektive lief ihren eigenen Prinzipien so sehr zuwider, dass ihr Magen sich regte. »Und ich glaube auch, dass Sie ein Verteidiger wären, der seinesgleichen sucht.«
»Warum vertrauen Sie ihn mir dann nicht an?«
»Weil ich von der Kraft des Schleiers zehre.«
Er runzelte die Stirn. »Wozu? Um Dämonen zu bekämpfen?«
»Das … und mehr.«
Wie etwa mein Herz am Schlagen zu halten.
Kiyoko war selbst überrascht, dass sie diese Kleinigkeit verschwieg. Die Jahre des Lernens auf Soras Knien hatten sie gelehrt, dem Stolz und der Eitelkeit abzuschwören, und doch störte es sie zuzugeben, dass sie eine Schwäche für Murdoch hatte – den wohl vor Gesundheit strotzendsten und männlichsten Mann, den sie jemals getroffen hatte.
Sie wollte, dass er sie so sah, wie sie vor dem Angriff auf ihren Vater gewesen war – stark, tüchtig, klug. Sie wollte, dass er sie bewunderte. War das denn so furchtbar falsch?
»Was auch immer der Grund dafür ist, dass Sie an diesem Schleier so festhalten«, sagte Murdoch mit gesenktem Kopf, um ihre Augen besser zu sehen, »ich kann nicht glauben, dass Sie ihn für wichtiger halten als die Sicherheit der Reliquie. Schon jetzt sterben die Leute zu Tausenden, verlieren die Ersparnisse eines ganzen Arbeitslebens bei Firmenpleiten und müssen jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft begraben – und all das nur, weil Satan zwei Reliquien in die Hände gefallen sind. Ich kann unter keinen Umständen zulassen, dass noch eine diesen Weg nimmt.«
Kiyoko schaute zur Seite. »Der Schleier ist eine Reliquie, über die es keinerlei Dokumente gibt. Niemand ist hinter ihm her.«
»Nichts bleibt für immer verborgen, Mädchen.
Ich
bin hinter ihm her. Das bedeutet, dass seine Existenz bekannt ist, ob Sie mir das nun glauben wollen oder nicht.«
Seine Worte klangen ruhig und aufrichtig, und das mulmige Gefühl kehrte in Kiyokos Magen zurück. Das Leben anderer für ihre persönlichen Zwecke aufs Spiel zu setzen, gefiel ihr ganz und gar nicht, vor allem nicht, da sie sich dazu verpflichtet hatte, dem Wohl aller zu dienen. Aber Murdoch die Reliquie auszuhändigen hätte ihren eigenen Tod bedeutet.
»Ich muss jetzt in die Stadt fahren«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
»Ich komme mit.«
»Nein, ich …«
Ein gedämpfter Schrei, gefolgt von mehrmaligem lautem Krachen, durchbrach die Stille der Morgenluft. Der Lärm kam vom Trainingsgelände oben auf der Klippe. Murdochs Hand schoss nach vorn, packte Kiyoko an der Schulter und stieß sie zu Boden. »Kopf runter!«
»Warum?«
»Schüsse.«
Er nahm sich keine Zeit für Erklärungen. Er rannte einfach mit übermenschlicher Geschwindigkeit den Pfad zurück: Im Laufen zog er seine Waffe.
Ein Schwert. Gegen Kugeln.
Feuerwaffen waren nicht Ausbildungsgegenstand der Onmyōji-Ausbildung. Die Krieger trainierten auf die alte Art. Sie kämpften nur mit Katanas und anderen traditionellen Waffen, die durch den einen oder anderen Zauber verstärkt waren – weil Dämonen sich auch nicht mit Feuerwaffen abgaben. Warum also waren Schüsse gefallen?
Kiyoko schaute auf ihren Rock, der nun mit Schmutz von der Holzbrücke befleckt war, und runzelte die Stirn. Warum hatte sie sich gerade heute wie eine Frau anziehen müssen? Um Murdoch zu beeindrucken? Wie albern! Sie schleuderte ihre Pumps von den Füßen, zog den Mantel aus und warf ihn achtlos beiseite.
Dann sprintete sie Murdoch hinterher.
Ein einzelner Schütze.
Murdoch bekam den Burschen in dem Zwischenraum zwischen zwei Gebäuden zu sehen, als er über den drei Meter hohen Begrenzungszaun sprang. Es war einer der jungen Krieger aus dem Dōjō. Er stand auf dem Hof, drehte sich langsam um die eigene Achse und schoss auf jeden, der es wagte, sich zu rühren. Er sprach japanisch, und seine Stimme war leise, drängend und zornig.
Den spärlichen Morgenschatten an der Mauer der Haupthalle ausnutzend, schlich Murdoch näher.
Er machte sich keine großen Sorgen darum, erschossen zu werden. Kugeln würden nicht mehr ausrichten können, als ihn richtig wütend zu machen, aber es war wohl klug, zunächst die Lage zu peilen, bevor er den Feind auf sich aufmerksam machte. Nicht, dass sein Berserker den Kerl als echte Bedrohung einstufte – sein Blut war nur leicht in Wallung, und das war zum größten Teil darauf zurückzuführen, dass er eben noch Kiyoko so nahe gewesen war.
An der Ecke des Gebäudes blieb er
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