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Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman

Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman

Titel: Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette McCleave
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dunklen, weit aufgerissenen Augen von Sora wissen.
    Der alte Meister zögerte nicht. »Weil ich wusste, dass du dich dann weigern würdest, sie weiter zu benutzen.«
    »Natürlich würde ich mich weigern«, gab Kiyoko hitzig zurück. »Sie ist
befleckt.
«
    Murdoch erhob eine Hand. »Einen Augenblick. Noch mal von vorn. Sie zu benutzen? Wer benutzt sie und wie genau? Das ist ein verfluchtes Teufelswerkzeug.«
    »Der Tempelschleier ist keine normale Reliquie«, erklärte Sora. »Er hat zwei getrennte Hälften: eine helle und eine dunkle. Wenn seine böse Hälfte in Schach gehalten wird, ist er zu Großem fähig.«
    Seine Antwort linderte den Schmerz in Kiyokos Augen nicht. Sie drehte sich um, schob den
shōji
mit heftigem Schwung beiseite und verließ den Raum. Murdoch musste es sich regelrecht verkneifen, ihr nachzugehen. Was, zum Henker, hatte er vor? Sie in den Arm nehmen? Eine Berührung, und
Trost
war sicher das Letzte, was er ihr spenden würde.
    Er griff sich die Flasche, die ihm am nächsten stand, und nahm einen langen Zug daraus. »Jetzt können Sie mir auch noch den Rest dieser hässlichen kleinen Geschichte erzählen«, sagte er anschließend zu Sora. »Und lassen Sie bloß nichts aus.«
    »Der Schleier ist der letzte Rest des großen Vorhangs, der einst am Tor zum Tempel von Jerusalem hing«, sagte der alte Mann. »Er diente dazu, die Massen vom Tempel fernzuhalten. Nur den Priestern war der Zutritt gestattet. Aber genau in dem Moment, als Jesus am Kreuz starb, riss der Vorhang entzwei und fiel zu Boden – als Symbol für Gottes Trauer um den Sohn und als Zeichen dafür, dass das Volk nicht länger vom Tempel ferngehalten werden sollte.«
    Murdoch runzelte die Stirn. »Sie glauben nicht daran, oder? Sie sind doch kein Christ.«
    Sora lächelte. »Woran Sie und ich glauben, sind verschiedene Dinge. Das stimmt. Für mich sind Gott und Satan Personifikationen von Gut und Böse – jenem Gut und Böse, das in jedem Einzelnen von uns wohnt. Ich verehre keine der Kreuzigungsreliquien, und ich bitte auch Gott nicht um Vergebung für meine Sünden. Aber ich glaube sehr wohl an die negative Kraft von Angst und Zorn und Hass und an die positive Kraft von Hoffnung und Güte und Erleuchtung.«
    »Und Sie glauben, dass einem Gegenstand diese Kräfte innewohnen können.«
    Der alte Mann nickte.
    »Und wie, zum Teufel, konnte eine christliche Reliquie in Japan landen?«
    »Sie wurde 996 von einem gottesfürchtigen Ritter namens Richard von Tournai hierhergebracht. Damals glaubte man, dass die duale Natur der Reliquie am besten von Meistern des Yin-Yang in Schach zu halten war. Daher kam er zu uns, um von uns zu lernen. Leider wurde er ein Jahr später im Kampf mit einem Dämon schwer verletzt, und wir konnten seine Wunden nicht mehr heilen. Als er starb, nahmen die Onmyōji die Reliquie unter ihre Fittiche.«
    Murdoch sah den Älteren mit zusammengekniffenen Augen an. »Mit ›wir‹ meinen Sie die Onmyōji allgemein, nicht sich selbst, nehme ich an?«
    Sora lächelte. »Richard-san ist vor über tausend Jahren gestorben. Meine Knochen knacken doch gewiss noch nicht so schlimm?«
    »Wozu wird der Schleier heute benutzt?«
    »Sie hatten recht mit Ihrer Vermutung, dass ein Deckzauber über der Reliquie liegt – aber nur über ihrer dunklen Seite. Die gute Hälfte kann frei eingesetzt werden, für alles, was der Hüter für angebracht hält.« Der alte Onmyōji nahm einen Schluck Tee.
    Murdoch wartete darauf, dass er fortfuhr, aber nachdem eine Weile vergangen war, in der nur das Plätschern des Zimmerbrunnens hörbar war, ergriff er selbst das Wort. »Das ist beruhigend, aber es erklärt noch nicht, was Kiyoko mit der Reliquie anstellt.«
    »Es ist nicht an mir, diesen Teil der Geschichte zu erzählen.«
    »Weichen Sie mir nicht aus, alter Mann. Sie haben ihr das verdammte Ding gegeben. Sagen Sie mir einfach, wozu sie es benutzt.«
    »Ich muss Kiyokos Privatsphäre respektieren.« Sora hob den Blick von seiner Teetasse. »Unsere Wege haben uns zwar bis hierher geführt, aber das gibt uns noch nicht das Recht, nun jeden Grashalm zu zertrampeln, Mr Murdoch.«
    Es war ein überraschend effektvoller Vergleich.
    Es fiel Murdoch nicht sehr schwer, sich sich selbst als gedankenlosen Stiefel vorzustellen und Kiyoko als das zarte Gras. Sein großer, schwerfälliger Körper und sein ungehobeltes Benehmen standen gegen ihre zierliche Vollkommenheit und ruhige, traditionelle Weiblichkeit. Aye, er könnte sie im Nu zerquetschen,

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