Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman
gesamte Orakel verloren?«
»Ja.«
Sie senkte entmutigt den Kopf. »Es enthielt die Einzelheiten des Rituals. Das könnte eine Katastrophe sein.«
»Das Orakel kann nur von einem meisterlichen Wahrsager gelesen werden. Das Risiko ist sehr gering.«
»Welches Ritual?«, fragte Murdoch.
»Ein Mündigkeitsritual.« Sie dachte nach. »Ich werde am elften Januar fünfundzwanzig Jahre alt. Glaubst du wirklich, dass euer Magier mich heilen kann?«
»Aye.«
»Dann fliege ich mit dir nach Kalifornien.«
»Kiyoko-san«, mahnte Sora. »Das ist eine überstürzte Entscheidung.«
Sie nickte. »Genau deshalb ist es auch die beste Entscheidung. Wenn sie erwarten, dass wir links abbiegen, müssen wir rechts abbiegen. Das Ritual wird nicht weniger effektiv sein, nur weil es in den Vereinigten Staaten durchgeführt wird.«
»Sollen etwa alle Onmyōji nach Kalifornien fliegen?«, fragte er mit erhobenen Augenbrauen.
»Nein, nur Sie und ich.« Sie bemerkte Soras missbilligendes Stirnrunzeln. »Wir wissen nicht, wer der Verräter ist, und ich habe nicht genug Zeit, ihn zu enttarnen.«
»Du bist noch nicht wieder bei Kräften. Du brauchst mehr Schutz. Ich allein kann ihn nicht garantieren.«
Sie warf Murdoch einen Blick zu und lächelte. »Wir sind doch nicht allein, Sensei. Murdoch wird auch da sein. Hat er seinen Wert im Kampf gegen die Dämonen etwa nicht unter Beweis gestellt?«
»Ihm geht es nur um den Schleier«, gab ihr Mentor zu bedenken. »Nicht um dich.«
»Sora-sensei.« Kiyoko sah Murdoch entschuldigend an. Sie rechnete damit, dass er über die Unterstellung verärgert war. Doch der Seelenwächter starrte vollkommen ruhig zu Boden. »Murdoch ist nicht so gefühllos, wie Sie andeuten wollen.«
Ihr Mentor war nicht überzeugt. Er presste die Lippen aufeinander.
Kiyoko seufzte. »In Ordnung. Wir nehmen Yoshio-san mit. Ihm vertraue ich von allen Onmyōji am meisten.«
Der Alte nickte. »Er war der Lieblingsschüler deines Vaters.«
»Gut«, sagte sie. »Wir reisen morgen früh.«
[home]
12
A ls sie auf dem Flughafen von San José landeten, hämmerte es in Murdochs Kopf. Es war ein Höllenflug gewesen. Sieben Stunden Nonstop-Tortur dank seines überaus angenehmen und leutseligen Sitznachbarn – Ryuji Watanabe. Er war sich nicht sicher, wie sich der Mann in die Reise eingeklinkt hatte und wie er auf dem Sitz neben ihm gelandet war. Offen gestanden, war das auch vollkommen ohne Belang.
Der Bursche war schon unanständig sympathisch. Er zwang Murdoch kein Gespräch auf. Er bestand nicht auf dem Gangplatz. Er schnarchte nicht einmal im Schlaf. Der Mann war der beste Sitznachbar, den man sich wünschen konnte.
Nein, er war noch besser als der beste.
Er stellte seine Bonusmeilen zur Verfügung, um sie alle in die Erste Klasse upgraden zu lassen, teilte seine Zeitung mit Murdoch und erklärte ihm seine Arbeit am Laptop in einfachen und unterhaltsamen Worten. Er war amüsant und ein guter Gesprächspartner.
Murdoch hasste ihn.
Denn wenn er für Kiyoko einen Mann – neben ihm selbst natürlich – hätte aussuchen müssen, dann hätte Watanabe auf seiner Liste ganz oben gestanden. Zur Hölle! Wie er während des Fluges herausfand, war der Mann nicht nur ein cleverer Geschäftsmann, sondern auch ein passionierter Radsportler und Fallschirmspringer. Klug, fit und mutig. Unter anderen Umständen hätte Murdoch ihn sich als Freund vorstellen können.
Welch ein Schwachsinn!
»Ich habe mir erlaubt, eine Limousine für uns zu mieten«, sagte Watanabe, als sie das Handgepäck aus dem Fach über ihren Köpfen zogen. »Das ist weniger anstrengend für Kiyoko-san.«
»Großartig!«
Was sonst sollte er sagen? Das war eine gute Idee. Nur eben keine, die Murdochs Budget zuließ.
»Wie lange dauert die Fahrt zu deiner Ranch?«, fragte Kiyoko, während sie einen hellgrünen Trenchcoat über ihr Blümchenkleid zog. Sie stand zwei Reihen hinter ihnen, die Hand auf Soras Schulter, und Murdoch war es trotz seiner Kopfschmerzen unmöglich, sie nicht anzulächeln.
Sie war einfach unfassbar schön. Selbst in diesem Gewimmel reisemüder Menschen.
»Etwa fünfundzwanzig Minuten. Wir werden gerade rechtzeitig zum Abendessen dort sein.« Es war nicht
seine
Ranch, aber wenn er Kiyoko korrigierte, würde das nur das Interesse auf seine Vermögensverhältnisse lenken. »Sie liegt in den Hügeln über der Stadt.«
Es dauerte unendlich lange, bis sie den Zoll passieren konnten, aber schließlich kamen sie doch bei der wartenden
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