Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman
nur ein paar blaue Flecken.«
»Ich hoffe bei Gott, dass Sie recht haben«, erwiderte Murdoch.
Webster machte eine eindeutige Handbewegung. »Mitkommen!«
»Ich habe trotzdem den Verdacht, dass ich gleich einen ordentlichen Tritt in den Hintern bekomme.«
Er folgte Webster den Flur entlang in die Bibliothek. Da er eine Standpauke erwartete, schloss er die Tür hinter sich.
Schon fuhr Webster zu ihm herum: »Warum, zum Henker, hast du mir nicht gesagt, dass sie sich hassen? Dann hätte ich beide in der Arena gegeneinander antreten lassen können.«
»Ich habe es vergessen.«
»Du hast es
vergessen?
«
Vergesslichkeit würde ihm Webster als Ausrede nicht durchgehen lassen. Murdoch wusste das. Aber es war die Wahrheit, und er würde sich niemals von der Wahrheit abbringen lassen, egal, wie hässlich sie war. »Es ist viel passiert, seit Kiyoko erwähnte, dass sie und Lena sich nicht mehr grün sind.«
»Ich meine, mich zu erinnern, dass du gesagt hast, die Japaner seien zurückhaltend und würdevoll. Aber das junge Gemüse hat Lena trotzdem attackiert. Warum?«
Hervorragende Frage. »Lena hat einen sensiblen Nerv bei ihr getroffen.«
»Welchen Nerv?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Murdoch. »Ich habe Kiyoko noch nie so zornig gesehen.«
»Auch nicht, als du den Schleier an dich genommen hast?«
Murdoch widerstand dem Drang, nervös herumzuzappeln. Echte Männer ließen sich durch Kritik nicht schrecken. »Ich habe den Schleier nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht genau, wo er sich befindet.«
»Du …« Webster schluckte hinunter, was auch immer ihm auf der Zunge lag, wandte sich ab und trat an seinen großen Schreibtisch am Fenster. »Du hast also zwei Wochen mit ihr verbracht und nichts herausgefunden. Glückwunsch!«
»Sie trägt ihn bei sich. Irgendwo an ihrem Körper.«
Websters Augenbrauen hoben sich. »Und du, der König der One-Night-Stands, hast ihn nicht gefunden? O mein Gott! Sag mir, dass das nicht wahr ist.«
Der Sarkasmus regte den Berserker auf. Ein bisschen.
»Meine Beziehung zu Kiyoko ist kompliziert.«
»Natürlich ist sie das.« Webster seufzte tief und schüttelte den Kopf. »Weißt du, Murdoch, mir ist herzlich egal, was du als Entschuldigung anführst. Zweifellos hast du dich wie üblich wie der Elefant im Porzellanladen aufgeführt und sie damit wütend gemacht. Was soll’s. Beschaff uns einfach den Schleier und schick sie ihres Weges. Ich kann im Moment keine Scherereien gebrauchen.«
»Ich habe sie hergebracht, damit sie Stefan trifft.«
»Okay, dann viel Glück dabei. Er führt sich seltsam auf, seit ich ihm gesagt habe, dass es den Schleier wirklich gibt. Er kommt kaum noch aus seinem Wohnwagen.«
»Es ist dir also recht, wenn ich sie ihm vorstelle?«
»Ja. Aber beeil dich!«
Webster wandte ihm den Rücken zu und starrte aus dem Fenster in die Nacht. Das war das Zeichen, dass die Unterredung beendet war. Doch gerade als Murdoch die Tür erreichte, fügte er noch ruhig hinzu: »Wenn Rachel oder dem Baby etwas passiert …«
Murdoch ließ den Kopf hängen. Was hätte er darauf erwidern können?
Dann verließ er den Raum.
Nach einer in bedrückter Stimmung eingenommenen Mahlzeit mit ihren Gastgebern zog sich Kiyoko in das Zimmer zurück, das ihr zugewiesen worden war. Sie warf sich auf das Kingsizebett, presste sich ein Kissen an die Brust und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie hatte einem anderen Menschen weh getan. Einem unschuldigen Menschen, der nichts Schlimmeres verbrochen hatte, als sich im selben Raum aufzuhalten wie sie. Und nur weil sie, von ihren Schuldgefühlen erdrückt, die Beherrschung verloren hatte. Das war ihre größte Schwachstelle: zu weit zu gehen. Wenn sie diese unbedachte Sekunde zurücknehmen könnte, würde sie es tun.
Ihr Vater wäre sehr enttäuscht von ihr gewesen.
Die Aura des Babys hatte gesund gewirkt und die der Mutter nur leicht gestresst, doch das schmälerte die Schwere ihres Vergehens nicht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Lena über den
onmyōdō-
Kodex Bescheid wusste, und die Erinnerung an ihren Verstoß dagegen hatte sie tiefer getroffen, als sie erwartet hatte. Aber dem Drang nachzugeben, Lena zu schlagen, war ein Totalausfall ihrer Selbstbeherrschung gewesen – ein deutliches Zeichen dafür, dass sie noch nicht bereit war zu transzendieren, was Sora auch sagen mochte.
Es klopfte an die Tür.
Kiyoko wischte schnell die Tränen fort.
»Herein.«
Die Tür ging auf. Murdoch. Er sah besser aus, als
Weitere Kostenlose Bücher