Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman
genug für ihn.
»Nein, ich nehme den oberirdischen Weg. Wir treffen uns am anderen Ende.«
Sora warf ihm einen wissenden Blick zu. »Die Klippen hinauf? Das ist eine anstrengende Klettertour«, warnte er.
»Ich habe keine Höhenangst.« Das stimmte. Murdoch hatte seine Kindheit damit verbracht, durch die Highlands zu streifen und von Fels zu Fels springende Hirsche und Hasen zu verfolgen. Seitdem konnten ihm schwindelnde Höhen nichts mehr anhaben. Nur Höhlen bereiteten ihm Schwierigkeiten.
»Dann sehen wir uns im Lager wieder.«
Die kleine Gruppe wandte sich unter Yoshios Führung zurück in Richtung Tunnel.
Bald war sie außer Sichtweite, und Murdoch versuchte, sich zu beruhigen. Sie war stark. Ihre Atmung war flach, aber gleichmäßig. Und sie hatte Sora bei sich. Alles würde gut gehen.
Zum Henker, er sollte sich besser beeilen.
Kiyoko erwachte auf der Krankenstation. Sie lag auf einer sehr harten, sehr dünnen Pritsche. Das grelle Licht über ihrem Kopf verriet ihr, wo sie sich befand. Und der beißende Geruch von Desinfektionsmittel.
Sie versuchte, sich aufzusetzen.
»Denk nicht mal daran, Mädchen«, sagte eine trockene Stimme aus einer Ecke des kleinen Raums. »Du musst liegen bleiben, bis die Ärztin dir erlaubt aufzustehen.«
Kiyoko ließ sich auf das Kissen zurückfallen und wandte ihren Kopf so, dass sie Murdoch sehen konnte. Es gab keine Stühle im Zimmer, und so lehnte er an der Wand. Es wirkte nicht sehr gemütlich.
»Wie schlimm steht es?«, fragte sie und machte sich auf eine vernichtende Antwort gefasst.
»Das Haus ist ein Schutthaufen, und du hast einen Krieger verloren.«
»Einen?«
Er nickte. »Nur einen.«
Kiyoko spürte, wie ihr ein gewaltiger Stein vom Herzen fiel. Bis sie sich wieder an ihre Entdeckung im Tunnel erinnerte. »Und Umiko-san.«
»Tut mir leid.« Murdoch schüttelte bedauernd den Kopf. »So viel Glück hast du nun auch wieder nicht.«
»Was? Willst du damit sagen, dass Umiko-san am Leben ist?«
»Aye, die Drachenlady hat überlebt«, bestätigte er.
»Aber wie denn?«
»Ich habe sie auf dem Felsvorsprung gefunden. Sie hatte sich mit mehr Kraft, als ich ihr jemals zugetraut hätte, an einen Felsbrocken geklammert«, erklärte er. »Sie wollte nicht loslassen, bis ich ihr die blutigen Finger einzeln gelöst habe. Wenn man bedenkt, dass sie einen gebrochenen Arm und einen ausgerenkten Kiefer hat, war das eine beeindruckende Leistung.«
»Umiko-san lebt.« Kiyoko konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
Er antwortete mit seinem schiefen Grinsen, und ihr Herz schlug ein wenig schneller. »Und sie macht mir schon wieder die Hölle heiß.«
»Weshalb denn?«
»So ziemlich wegen allem«, sagte er. »Wegen deines Zustandes, wegen des Dämonenangriffs, wegen des Verlustes des Hauses.«
Kiyoko biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzulachen. Das klang ganz nach Umiko. Sie sah es förmlich vor sich, wie die kleine Frau Murdoch mit der Faust drohte. »Sie hat doch recht. Du
hast
mir die Rippen gebrochen.«
Er stieß sich von der Wand ab, die Augen dunkel vor Reue. »Was das betrifft …«
»Ach, hör auf! Ich habe das, was ich bekommen habe, auch verdient. Ich wollte doch, dass der Berserker mit dir durchgeht, und das hat er getan.« Sie seufzte. »Außerdem war es ja nicht deine Absicht, mir weh zu tun.«
Er starrte zu Boden und schwieg eine Weile.
»Der Kuss war es mir wert«, sagte sie leise.
Sein Blick begegnete dem ihren, dunkel und sinnlich. »Es war ein guter Kuss«, bekräftigte er.
Kiyoko blickte hinunter auf den weißen Baumwollbezug ihrer Decke. Murdoch hatte in seiner langen Existenz sicher schon viele Frauen geküsst. Frauen, die viel verführerischer waren als sie. Wahrscheinlich schaffte es jener Kuss auf dem Hof nicht einmal unter seine persönlichen Top Hundert.
»Dann solltest du ihn auch nicht bereuen«, murmelte sie.
»Ich sagte, es war ein
guter
Kuss, kein
kluger
Kuss«, entgegnete er und trat an ihr Lager. Seine Silberschnallen klirrten leise, als er sich auf die Pritsche setzte. »Ich habe viele Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin, und der Kuss auf dem Hof gehört dazu.«
»Eigentlich habe
ich dich
geküsst.«
Sein Blick schien sie zu durchbohren. »Eigentlich habe ich dich fast umgebracht.«
»Aber nicht mit dem Kuss.«
Er schnaubte. »Das kann man so oder so sehen.«
Kiyoko spürte erstmals einen Anflug von Ärger. Der Mann benahm sich, als wäre er der Mittelpunkt des Universums. »Warum bist du so scharf
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