Zärtlich wie ein Krieger / Wächter der Seelen. Roman
nachzujagen. Aber lass dich warnen: Meine Toleranzschwelle ist sehr niedrig, und wenn du doch aus der Reihe tanzt – ich kann zum Tier werden, wenn man mir auf die Nerven geht.« Er zog den jungen Mann um den Schreibtisch herum zu sich heran. »Gehen wir.«
»Er muss sich bei Mr. MacGregor entschuldigen«, sagte Kiyoko, als sie den Bungalow verließen und den Kiesweg zum Haus hinauf nahmen.
»Nein«, widersprach Murdoch. »Dieses eine Mal verzichten wir darauf. Der Mann und seine Frau bringen heute ihr neugeborenes Baby nach Hause. Das ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt, um ihnen von Yoshios Einbruch zu erzählen.«
Er schob Yoshio durch die Küchentür und den Flur entlang in den kleinen, heißen Raum, der als Computerzentrale der Seelenwächter fungierte. Verborgen hinter Rollen von Verlängerungskabeln, wippenden Türmen aus alten Platinen und einem Haufen alter Coladosen tippte Brendan Carter auf seiner Tastatur herum.
Der Rotschopf blickte auf, als Murdoch eintrat.
»Wow! Ist etwa die Hölle eingefroren?«
»Sehr witzig!« Murdoch schüttelte Yoshio. »Du musst meinem Freund hier eine Fußfessel verpassen.«
Carter drehte seinen Stuhl herum. »Nein, im Ernst. Hat es eine Naturkatastrophe gegeben? Ich meine mich nämlich zu erinnern, dass du gesagt hast, du würdest niemals hierherkommen, und ›niemals‹ hat zumindest in diesem Universum eine ganz bestimmte Bedeutung.«
»Hör auf, kluge Sprüche zu klopfen, und mach deinen Job!«
Carter stand auf und streckte Kiyoko die Hand hin. »Hi. Lassen Sie uns den alten schottischen Brummbären ignorieren, was meinen Sie? Ich bin Brendan. Wir haben uns an Ihrem ersten Abend hier schon mal gesehen, hatten aber keine Gelegenheit für ein Schwätzchen, weil er Sie zum Schachspielen entführt hat.«
»Ja, ich erinnere mich.«
Ihre Hände lösten sich voneinander.
Und Murdochs Berserker würgte ein Haarknäuel aus.
Carter mochte den ganzen Tag auf strumpfbesockten Füßen umhergehen und endlos Akronyme wie VPN oder BIOS von sich geben, aber er erfüllte trotzdem nicht das Klischee eines Computerfreaks. Er war ein Seelenwächter. Und das bedeutete, dass er in erster Linie ein Krieger war. Er war über 1,80 Meter groß, robust wie ein Fels und führte mit großem Geschick das Schwert. Nur das rote Haar sprach gegen ihn.
»Wir haben nicht den ganzen verdammten Tag Zeit«, ging Murdoch dazwischen. »Kannst du nun diesem Mann eine Fußfessel anlegen oder nicht?«
»Wirf mal eine Valium ein, Murdoch. Ich weiß, dass du bei so viel Technik die Krätze kriegst, aber ein bisschen höfliche Konversation wird dich schon nicht umbringen.«
»Ich habe nichts gegen Technik«, gab Murdoch giftig zurück. »Manchmal kann sie sehr nützlich sein, so wie jetzt. Aber wenn man sich zu sehr darauf verlässt, wird man faul, und die Aufmerksamkeit leidet darunter.«
Kiyoko nickte. »Das sehe ich auch so. Wir haben bis auf das Nötigste alle Technik aus dem Trainingslager verbannt. Ein Krieger mit ausgezeichneten Sinnen lässt sich eben nicht durch eine unvollkommene Maschine ersetzen.«
Und schon rollte sich Murdochs Berserker mit einem zufriedenen Seufzer zusammen und schlief wieder ein.
»Die Fußfessel«, mahnte Murdoch Carter.
»Ja, ja! Ich bin ja schon dabei.«
Die nächsten fünf Minuten verstrichen mit der Programmierung des Bewegungsspielraums für Yoshios Fußfessel. Während Carter über das Gerät gebeugt dasaß und es einstellte, zogen sich Murdoch und Kiyoko zur Tür zurück, um der Hitze zu entgehen, die die fünf summenden Computer neben Carters Arbeitsplatz abstrahlten.
Murdoch schloss die Augen und genoss Kiyokos Nähe. Nicht einmal zehn Zentimeter trennten seine Haut von ihrer, und wenn er nicht hinsah, konnte er sich beinahe vormachen, sie läge in seinen Armen. Er hatte so wenig Gelegenheit, im Stillen ihre Gegenwart auszukosten, die ihm Gänsehaut verursachte, wann immer er weniger als drei Meter von ihr entfernt war.
»Willst du denn nichts über die Prophezeiung wissen?«, fragte sie plötzlich.
Er öffnete die Augen und betrachtete ihren Scheitel. Der seidige Schimmer ihres Haars flüsterte seinen Fingern süße Worte zu. »Fang an, wann immer du willst.«
»Die Weissagung ist eine der
onmyōdō
-Künste.«
»Das weiß ich.«
»Sie wird seit Jahrhunderten praktiziert, und ein wirklich begabter Onmyōji kann fast alles vorhersagen, wenn er genug Zeit und Mühe aufwendet.«
Murdoch hatte da seine Zweifel. Selbst der berühmte Druide,
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