Zärtliche Wildnis
beschloß, einfach alle Warnungen zu vergessen und jedes Kind so zu nehmen, wie es sich ihr gegenüber gab. Und sie stellte fest, daß die Kinder im Kindergarten ganz anders waren, als ihre Mütter sie beschrieben hatten. Der kleine Junge, der ihr als >fürchterlicher Lausbub< beschrieben worden war, war in der ersten Woche schüchtern und voller Heimweh; dann taute er auf, und Liz bekam ein wenig von dem zu spüren, wovon seine Mutter gesprochen hatte. Mit den anderen verhielt es sich ähnlich, und auch die drei, die sie insgeheim >Spätlinge< nannte, weil sie schon über fünf waren und eigentlich in die Schule gehört hätten, bereiteten ihr wenig Mühe. Zu Hause hatte man ihnen nichts beigebracht, und es gelang ihr, auch sie bei guter Laune zu erhalten und sie zu ihrer Befriedigung zu beschäftigen, während sie die große Heizung mit Zwanzig-Cent-Stücken fütterte, wovon die Leute im Tal keine Ahnung hatten. Sie brachte ihnen die ersten Buchstaben und Zahlen bei, wahrscheinlich auf unkonventionelle Weise, aber immerhin so, daß ihr Interesse wachblieb. Als der große Tag kam, an dem sie ein Wort unter einem Bild lesen konnten, herrschte im Tal allenthalben Stolz und Freude, und alle sagten, man wäre doch mit Liz viel besser dran, als wenn man die Kinder jeden Tag in die Schule schicken müßte, die so weit weg war, daß sie erst abends todmüde und durchgefroren nach Hause kamen.
An sonnigen Tagen vergnügten sie sich in dem großen Sandkasten und auf den Schaukeln. An regnerischen Tagen hockten sie auf Zeitungen auf dem Boden der Halle und formten groteske Tiere aus Knetmasse, malten ebenso zweifelhafte Kreaturen auf große Zeichenblätter und spielten. Um halb zwölf Uhr verschlangen sie ihr Pausebrot, das ihre Mutter ihnen mitgegeben hatte und das sie stolz in ihren kleinen Taschen mitbrachten. Um halb ein Uhr fuhren dann die Wagen wieder vor, und Liz packte die Kinder hinein, die müde genug waren, um zu Hause einen ausgedehnten Mittagsschlaf zu machen und dann am Nachmittag friedlich zu spielen. Die Eltern hatten einen ruhigen Morgen hinter sich und freuten sich, ihre Sprößlinge wiederzusehen.
»Es ist komisch«, sagte eine Mutter, »aber ich freue mich direkt darauf, wenn Linda nach Hause kommt. Früher ging sie mir schon gegen Mittag so auf die Nerven, daß ich sie am liebsten irgendwo eingesperrt hätte.«
»Ja«, fügte eine andere hinzu, »und das Schönste ist, daß Bobbie sich tatsächlich auf mich freut, wenn ich mittags komme. Früher, als er mir ständig am Rockzipfel hing, konnte er mich oft nicht ausstehen.«
Was Liz anging, so war sie froh, wenn der Vormittag zu Ende war, und doch genoß sie jede Minute des Zusammenseins mit den Kindern. Aber es war anstrengend, sich zweieinhalb Stunden lang ausschließlich um eine Schar lebhafter, gesunder Kinder kümmern zu müssen, und sie und Pirate pflegten mittags recht müde nach Hause zu kommen. Er hatte so viele Schuhe bewachen und mit so vielen Kindern herumtollen müssen, und Liz hatte so viele kleine Zwistigkeiten schlichten und so viele dumme Streiche verhindern müssen, daß sie beide mittags redlich erschöpft waren. Doch Liz’ Kindergarten war ein voller Erfolg, und alle im Tal sagten ihr das voller Dankbarkeit.
Pirate hing mit unerschütterlicher Treue und Ergebenheit an ihr und dem kleinen Haus. Von dem Tag an, an dem Adam ihn ihr unter vielen Entschuldigungen ins Haus gebracht hatte, war es klar, daß er sich nie etwas anderes gewünscht hatte. Die Kinder brachten am Morgen Abwechslung, doch er war durch und durch von dem brennenden Verlangen besessen, Liz vor Gefahren zu schützen. Als Adam eine Woche später vorbeikam, um sich zu vergewissern, daß sie es sich auch nicht anders überlegt hatte, nahm Pirate von seiner Anwesenheit zwar Kenntnis, doch er tat es mit einem Gehabe unendlicher Nachsicht. Sie lachten beide über seine Miene.
»Mein Wohlwollen scheint ihm leider völlig gleichgültig zu sein«, meinte Adam, »aber dafür liebt er Sie. Ich vermute, Sie haben Ähnlichkeit mit der Frau, die ihn großgezogen hat.«
Da >die Frau, die ihn großgezogen hatte<, fünfundsiebzig Jahre alt gewesen war, wie Adam Liz bei anderer Gelegenheit erzählt hatte, fühlte sich Liz durch dieses Kompliment nicht sonderlich geschmeichelt, meinte aber mit Gelassenheit, daß Mrs. Wilson vielleicht auch eine Tochter oder Enkelin gehabt habe, und Adam machte sich in dem Bewußtsein auf den Heimweg, leicht ins Fettnäpfchen getreten zu sein.
Als er
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