Zärtlicher Hinterhalt
weiß vor Anspannung. Das alles fiel ihm so schwer, dass sie ihm die Hand tätscheln wollte und sagen,
mach dir nichts draus.
Doch das tat sie nicht. Er wollte ihr etwas mitteilen. Ausnahmsweise suchte er ein Gespräch, ohne dass ein Kampf oder eine Schusswunde vorausgegangen wäre. »Ich hatte schon vermutet, dass du nicht der kleine Heilige warst, wie sie seinerzeit behauptete.«
»Ich will den Toten nichts Schlechtes nachsagen – aber ich habe meine Gründe.« Sein Mund presste sich zu dem gewohnt harten Strich zusammen. »Ich erinnere mich nicht an meine Mutter. Meine Großmutter hat mich geliebt. Aber mein Vater war ein Tyrann, der mich überhaupt nicht mochte und sich nur so weit für mich interessierte, als es den Ruf der Familie betraf.«
»Also hast du rebelliert.«
»Du hast die Gerüchte gehört?«
»Ein paar«, gab sie zu. »Vor Jahren und kürzlich von Seaton.«
»Seaton.« Dougald lächelte, allerdings nicht erfreut. »Wenn er die Einzelheiten kennen würde, könnte er jahrelang davon leben.«
»Sind die Einzelheiten denn so grässlich?«
»Für meinen Vater zählten nur harte Arbeit und Abstinenz. Ich habe ihn verabscheut. Meine Großmutter sprach ebenfalls häufig von Familienehre und Tradition. Ich konnte es nicht leiden. Alles, was sie sagten, erschien mir so altmodisch und engherzig. Ich wusste, was ich wollte – nämlich nicht das Leben eines Geschäftsmannes, der einen schwarzen Anzug trägt und sich ein Halstuch herumschlingt.« Dougald strich über sein perfekt geschlungenes Halstuch. »Nein, aber meine Familie war reich, also hatte ich es leicht. Als ich fünfzehn war, habe ich mich jede Nacht bis zur Besinnungslosigkeit betrunken. Ich habe Zigarren geraucht, bis ich stank, und habe die bekanntesten Huren besucht. Ein
knallharter Mann.«
Hannah fiel es schwer, sich vorzustellen, dass Dougald so über die Stränge geschlagen hatte.
Er blickte auf, sah ihren ungläubigen Blick auf sich ruhen und setzte hinzu: »Bis mein Vater mir die Apanage gestrichen hat.«
Sie zuckte zusammen.
»Ich konnte nicht glauben, dass er mir das antat. Und hasste ihn dafür.«
»Verständlich.«
Er starrte sie an. »Findest du?«
»Ich hatte auch einen Vater«, erklärte sie. »Und der hat meine Mutter nicht geheiratet.«
»Vielleicht wollte er ja – aber konnte sich nicht gegen seine Ei Itern durchsetzen.«
»Die Großeltern, die ich morgen kennen lernen werde.« Sie wünschte sich schon fast, sie könnte das Treffen verschieben, bis sie mehr Zutrauen gefasst hatte – oder zumindest dieses emotionale Durcheinander vorbei war.
In seinem pessimistischstem Tonfall sagte er: »Wir sind ein Paar.«
»Sei nicht so überschwänglich!«
Aber er reagierte in keiner Weise auf ihre Jovialität.
»Du bist also nach Hause zurückgekehrt?«, fragte sie seufzend.
»Ich? Bestimmt nicht. Vater hat versucht, mich an die Kandare zu nehmen. Und ich war entschlossen, ihn scheitern zu lassen.«
Sie konnte sich gut vorstellen, wie der junge Dougald an seinem Stolz zu beißen gehabt hatte. »Hast du bei Freunden gewohnt?«
»Als ich bankrott war, hatte ich auch keine Freunde mehr.«
Er hörte sich nicht einmal bitter an – aber dass seine Freunde ihn verlassen hatten, war für den jugendlichen sicher eine harte Lektion gewesen. »Was hast du getan?«
Dougald schaute sie von der Seite an. »Ich wurde ein Schurke ersten Ranges und führte eine ganze Bande an. Wir bekriegten uns gegenseitig und überfielen jeden Dandy, der dumm genug war, nach Einbruch der Dunkelheit draußen zu sein. Wir stahlen, was immer uns in die Hände fiel. Und als ich erwischt wurde …« Seine Stimme erstarb.
Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Diebe endeten durch den Strick.
»Sie haben dich erwischt?«
»Der Richter musste mir erst den Galgen zeigen, bevor ich aufgab und meinem Vater eine Nachricht schickte.« Er straffte sich mit ausdrucksloser Miene. »Mein Vater ist an dem Schock gestorben. Er hat sich ans Herz gefasst und ist vornüber auf den Kopf gefallen.«
Fassungslos saß Hannah da und versuchte, die Schuldgefühle des damals so jungen Burschen nachzuempfinden.
»Charles hat dem Richter ein riesiges Lösegeld bezahlt und mich aus dem Gefängnis freigekauft. Dann hat er mich nach Hause gebracht, damit ich meinem Vater am Sarg die letzte Ehre erwies.«
»Wie entsetzlich«, flüsterte sie.
Dougald starrte die Blumen an, wie sie in ihren Vasen die Köpfe hängen ließen. »Bei Beerdigungen muss ich immer an meinen Vater
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