Zärtlicher Hinterhalt
hatte er ihre Macht jedenfalls unterschätzt.
»Als Ruperts Frau gestorben ist, habe ich meinem Bruder dabei geholfen, seine Söhne großzuziehen; und als seine Söhne dann fast erwachsen waren und ich mich fragte, was ich mit meinem Leben wohl anfangen könnte, da hat meine liebe Freundin …« Sie lächelte Miss Minnie an. »… da hat meine liebe, langjährige Freundin ihren Bruder und damit ihr Zuhause verloren; in dem Moment wurde mir klar, dass wir wohl gut zusammenpassen könnten.«
Miss Minnie beobachtete Tante Spring unablässig, und Hannah entdeckte im Blick der grimmigen alten Frau tiefe Zuneigung – aber auch Ungeduld, so wie die Erzählung sich dahinschleppte.
Tante Ethel schaltete sich ein. »Dann hat das schweifende Auge meines Manns dieses Flittchen von einer Kammerzofe entdeckt, und als ich nicht mehr weiterwusste, hat die liebe Minnie Tante Spring von mir erzählt, und diese gewährte auch mir Zuflucht …«
Alle schauten Tante Isabel an und warteten auf ihre Geschichte. »Mein Mann ist gestorben. Möge der alte Bock, wenn schon nicht in Frieden, so doch wenigstens ruhen. Er hatte so gar nicht für mich vorgesorgt; aber Spring fand, jede Freundin von Ethel und Minnie sei auch ihre Freundin, und ich … ich hatte doch keine Wahl.« Sie hielt inne, setzte dann aber noch hastig hinzu: »Nicht dass ich nicht glücklich wäre und dankbar, hier zu sein, ich wollte nur sagen, dass ich wirklich in einer Notlage war. Ich bin nicht einfach nur hergekommen, weil es den Damen hier so gut geht.«
Hannah sagte: »Seine Lordschaft, der Earl, muss sehr …«
»Und ob er konsterniert gewesen ist, dass ich mir seine Großzügigkeit mit meinen lieben Freundinnen teilen wollte! Gejammert und gewunden hat er sich, als hätte er Würmer im Gedärm.« Tante Spring verstummte und legte den Finger auf den Mund. »Hm! Daran habe ich nie gedacht … dass er vielleicht tatsächlich Würmer hatte.«
»Was inzwischen aber eine müßige Frage ist«, stellte Miss Minnie fest.
Tante Spring schaute sie verunsichert an.
»Inzwischen ist er tot und hat seine Belohnung empfangen«, erläuterte Minnie ihr. »Oder seine Strafe.«
»Ja, das hat er wohl«, nickte Tante Spring. »Und als christliche Frau sollte ich seinen Tod wohl auch betrauern; aber nachdem die Buben gestorben sind – meine Neffen, wissen Sie, und seine Söhne –, wurde er vollends unerträglich.«
Tante Ethel stand auf und faltete die Hände, entfaltete sie wieder und faltete sie erneut. »Sie waren seine Kinder, Liebes. Es gibt nichts Schrecklicheres, als wenn einem die eigenen Kinder vorangehen.«
Noch so eine traurige Geschichte – eine, die so traurig war, dass Isabel ihrer Freundin die adrige Hand tätschelte.
Tante Spring versagte fast die Stimme, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich weiß, Ethel. Ich weiß.«
»Vielleicht sollten wir uns nicht allzu lange bei solchen düsteren Themen aufhalten«, sagte Miss Minnie und nickte Tante Ethel zu. »Erzähle Miss Setterington lieber, warum Queen Victoria uns besuchen soll.«
»Aber, meine Liebe«, sagte Tante Spring. »Das habe ich doch getan!«
»Vielleicht könnten Sie mir Ihre Gründe trotzdem noch mal verdeutlichen«, schlug Hannah vor.
Tante Spring gestikulierte in Richtung des Arbeitstisches. »Wir haben etwas für sie.«
»Für die Königin?«
»Ja, und wir möchten, dass Sie ihr schreiben, sie soll herkommen.«
»Aber doch mit allem gebotenen Respekt! Die Königin kommt nicht auf Wunsch!«
»Das muss sie aber.« Tante Spring legte bedrückt die Finger an die Wange. »Sie müssen ihr schreiben und ihr mitteilen, dass sie kommen soll, damit wir ihr … den … das … das Ding geben können.«
Tante Springs Vergesslichkeit sorgte für eine gewisse Spannung im Raum.
»Das Ding?«, fragte Hannah aufmunternd.
»Das Ding, das wir für sie angefertigt haben«, insistierte Tante Spring. »Oh, ich kann mich nicht an das Wort erinnern.«
Von der Tür drang Mrs. Trenchards Stimme herein. »Das Wort spielt doch gar keine Rolle, Miss Spring. Zeigen Sie Miss Setterington einfach, was Sie gemacht haben. Aber erst nach dem Tee.«
»Oh, ja!« Tante Spring klatschte in die Hände. »Liebste Judy, haben Sie denn Cremetörtchen mitgebracht?«
»Natürlich hab ich das, Miss Spring. Ich weiß doch, wie gerne Sie die schnabulieren.« Mrs. Trenchard rollte einen weiß gedeckten Teewagen herein, auf dem Kuchen aller Art standen, kleine Sandwiches ohne Kruste und zwei dampfende Porzellankannen.
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